Familie Gültekin nach den Morden von Hanau
Im Februar 2020 ermordete ein Rechtsextremist neun Menschen. Eines seiner Opfer war Gökhan Gültekin. Seine Familie ist seitdem traumatisiert – und wirft den Behörden vor, nicht genug zu tun.
Familie Gültekin nach den Morden von Hanau
Im Februar 2020 tötete ein rechtsextremer Attentäter in Hanau neun Menschen. Eines
der Opfer war Gökhan Gültekin. Sein Bruder und sein Neffe erzählen von ihrem Leben
nach der Tat – und davon, wie sich in ihre Trauer immer mehr Wut mischt. Denn sie
fühlen sich von der Politik allein gelassen.
SPRECHERIN:
Sie wollten noch einmal an den Ort in Hanau, wo vor einem Jahr Gökhan Gültekin erschossen jemanden erschießen jemanden durch einen Schuss aus einer Pistole oder einem Gewehr töten wurde, ihr Bruder und Onkel.
ÇETIN GÜLTEKIN:
Da, wo diese zwei Steckdosen sind, lag mein Bruder.
MERT GÜLTEKIN:
Die ganzen Blaulichter Blaulicht, -er (n.) das blaue Lichtsignal auf einem Polizei-, Feuerwehr- oder Krankenwagen , die ganzen Menschen. Das haben wir erst mal am Anfang nicht realisiert, was eigentlich passiert ist.
SPRECHERIN:
Kurz nach dem Attentat Attentat, -e (n.) der Mord oder der Mordversuch; der Anschlag am 19.02.2020 eilen Çetin und Mert Gültekin an den Tatort. Zu dem Zeitpunkt hat der Täter Tobias R. bereits gezielt gezielt so, dass etwas genau durchdacht ist; zweckgerichtet neun Menschen getötet – alle mit Migrationsgeschichte. Dann erschießt er seine Mutter und sich selbst. Der 37-jährige Gökhan war eines der Opfer. Seit dieser Nacht ist für die Gültekins nichts mehr, wie es war: Die Mutter kommt mit etwas zurecht|kommen keine Probleme mit etwas haben ohne Medikamente nicht mehr zurecht mit etwas zurecht|kommen keine Probleme mit etwas haben . Der Vater erliegt einer Krankheit erliegen an einer Krankheit sterben kurz nach dem Tod seines Sohnes seinem Krebsleiden Krebsleiden, - (n.) die Tatsache, dass man die Krankheit Krebs hat . Bruder Çetin und sein Sohn sind traumatisiert traumatisiert so, dass man unter einem schlimmen Ereignis, das man erlebt hat, leidet und können nicht mehr arbeiten.
ÇETIN GÜLTEKIN:
Der Gökhan war das Fundament Fundament, -e (n.) hier: jemand, der anderen Halt und Unterstützung gibt; die Basis . Und seitdem unser Fundament nicht mehr da ist, sind wir nur noch am Wackeln wackeln hier: sich unkontrolliert und unsicher hin- und herbewegen . Jede Wand wackelt momentan. Und seit einem Jahr gibt [es] keine einzige Nacht, wo ich sage: Ich bin [habe] mal durchgeschlafen durch|schlafen die ganze Nacht schlafen, ohne zwischendurch aufzuwachen . Du kannst nicht mehr schlafen, weil gerade nachts, wenn [es] dunkel ist, wenn du deinen Kopf an den [das] Kissen lehnst, kommen dann die Fragen, die dich richtig fressen.
SPRECHERIN:
Die Familie zieht um, weil die alte Wohnung zu nah am Tatort ist und sie es dort nicht mehr aushalten etwas aus|halten an etwas nicht kaputtgehen; etwas schaffen . Vater und Sohn teilen sich seitdem ein Zimmer.
MERT GÜLTEKIN:
Ich komm damit nicht klar. In der alten Wohnung, als ich nach links umgedreht bin, habe ich das Bett gesehen, war komplett leer. Und deswegen ist es sehr wichtig, dass wir zusammen in einem Zimmer schlafen.
SPRECHERIN:
Zur Trauer mischt sich aber auch immer mehr Wut.
ÇETIN GÜLTEKIN:
Seit einem Jahr schreien wir, schreien wir, schreien wir und bis heute kein einziges Erfolgserlebnis, dass wir sagen: Weißt du, hier, das haben wir wenigstens geschafft. Nur ins Leere, nur ins Leere, nur ins Leere. Und diese Politiker tun uns jedes Mal angucken, uns anlächeln.
SPRECHERIN:
Den Angehörigen reicht das nicht. Sie haben zusammen mit Unterstützern die „Initiative 19. Februar“ gegründet und fordern, dass die Behörden Verantwortung übernehmen. Warum hatte der Täter einen Waffenschein Waffenschein, -e (m.) die Erlaubnis einer Behörde, dass man Waffen besitzen darf , obwohl er psychisch krank war? Oder warum war der Notruf der Polizei in der Tatnacht anscheinend nicht ausreichend besetzt? Weder das Hessische Innenministerium noch die Hanauer Polizei sind zu einem Interview bereit. Doch die Deutsche Polizeigewerkschaft äußert sich.
RAINER WENDT (Deutsche Polizeigewerkschaft):
Verantwortung für die Polizei in dem Sinne, dass sie an der einen oder anderen Stelle das und das hätte tun können, und dann wäre es verhindert worden, die sehe ich in der Tat nicht. Insofern ist es sehr wohlfeil wohlfeil einfach; leicht zu sagen , hinterher zu sagen, was die Polizei alles hätte vorher wissen müssen.
SPRECHERIN:
Çetin Gültekin fühlt sich in Deutschland nicht mehr sicher. Der türkischstämmige Hanauer hat Angst, wenn er nachts unterwegs ist – oder wenn sein Sohn zu spät nach Hause kommt. Denn rechtsextreme Attentate nehmen immer weiter zu. Davor warnen auch Expertinnen und Experten.
ANDREAS ZICK (Extremismusforscher, Universität Bielefeld):
Wir brauchen sehr deutlich eine starke Prävention Prävention, -en (f., meist Singular) die Maßnahme, die dafür sorgen soll, dass etwas nicht passiert; die Vorbeugung gegen Rechtsextremismus Rechtsextremismus (m., nur Singular) die Ideen und Taten, die rassistisch, undemokratisch und nationalistisch sind , das heißt, die Behandlung des Themas muss früh anfangen, wir müssen vorbeugend vorbeugend so, dass man versucht, dass etwas in der Zukunft nicht passiert handeln. Wir müssen sozusagen vor die Lage kommen, nicht erst dann uns immer etwas ausdenken, was wir tun können, bei der Strafverfolgung Strafverfolgung (f., nur Singular) die Aktivität der Behörden bei der Aufklärung von Verbrechen , bei der Sicherheitsarbeit, nachdem etwas passiert ist. Rechtsextreme Einstellungen Einstellung, -en (f.) hier: die Meinung; die Art, wie man über etwas denkt sind vorher da und sie motivieren Menschen dann, sich Organisationen anzuschließen sich etwas/jemandem an|schließen bei etwas mitmachen; etwas/jemandem folgen .
SPRECHERIN:
Gültekin fordert, solidarisch solidarisch so, dass man für jemanden eintritt; so, dass man jemanden unterstützt zu sein – und wachsamer wachsam sehr aufmerksam; so, dass man aufpasst, dass nichts Schlimmes passiert .
ÇETIN GÜLTEKIN:
Er hat mir mein Leben weggenommen. Er hat mir alles, mein … alles weggenommen. Wem hab ich was getan? Und deswegen, seit einem Jahr, kämpfen wir mit Familien für Gerechtigkeit Gerechtigkeit (f., nur Singular) die Tatsache, dass etwas fair ist und Aufklärung.
Familie Gültekin nach den Morden von Hanau
jemanden erschießen — jemanden durch einen Schuss aus einer Pistole oder einem Gewehr töten
Blaulicht, -er (n.) — das blaue Lichtsignal auf einem Polizei-, Feuerwehr- oder Krankenwagen
Attentat, -e (n.) — der Mord oder der Mordversuch; der Anschlag
gezielt — so, dass etwas genau durchdacht ist; zweckgerichtet
mit etwas zurecht|kommen — keine Probleme mit etwas haben
einer Krankheit erliegen — an einer Krankheit sterben
Krebsleiden, - (n.) — die Tatsache, dass man die Krankheit Krebs hat
traumatisiert — so, dass man unter einem schlimmen Ereignis, das man erlebt hat, leidet
Fundament, -e (n.) — hier: jemand, der anderen Halt und Unterstützung gibt; die Basis
wackeln — hier: sich unkontrolliert und unsicher hin- und herbewegen
durch|schlafen — die ganze Nacht schlafen, ohne zwischendurch aufzuwachen
etwas aus|halten — an etwas nicht kaputtgehen; etwas schaffen
Waffenschein, -e (m.) — die Erlaubnis einer Behörde, dass man Waffen besitzen darf
wohlfeil — einfach; leicht zu sagen
Prävention, -en (f., meist Singular) — die Maßnahme, die dafür sorgen soll, dass etwas nicht passiert; die Vorbeugung
Rechtsextremismus (m., nur Singular) — die Ideen und Taten, die rassistisch, undemokratisch und nationalistisch sind
vorbeugend — so, dass man versucht, dass etwas in der Zukunft nicht passiert
Strafverfolgung (f., nur Singular) — die Aktivität der Behörden bei der Aufklärung von Verbrechen
Einstellung, -en (f.) — hier: die Meinung; die Art, wie man über etwas denkt
sich etwas/jemandem an|schließen — bei etwas mitmachen; etwas/jemandem folgen
solidarisch — so, dass man für jemanden eintritt; so, dass man jemanden unterstützt
wachsam — sehr aufmerksam; so, dass man aufpasst, dass nichts Schlimmes passiert
Gerechtigkeit (f., nur Singular) — die Tatsache, dass etwas fair ist