Als Kind misshandelt – ein Schweizer Schicksal
Jahrzehntelang wurden Menschen in der Schweiz „administrativ versorgt“. Sie verloren ihre Rechte und ihre Freiheit, weil sie nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen. Nun kämpfen die Opfer um Anerkennung.
Als Kind misshandelt – ein Schweizer Schicksal
Jahrzehntelang wurden in der Schweiz bis zu 60.000 Menschen „administrativ versorgt“. Sie verloren ihre Rechte und ihre Freiheit, viele wurden misshandelt und ausgebeutet. Der Grund: Sie entsprachen nicht der gesellschaftlichen Norm. Nun kämpfen die Opfer um Entschädigung und Anerkennung.
SPRECHERIN:
Sie haben sein Leben zerstört, haben ihn seiner Mutter weggenommen und ins Heim gesteckt jemanden ins Heim stecken hier umgangssprachlich für: eine Person (meist ein Kind) gegen ihren Willen in einer Erziehungsanstalt unterbringen : die Schweizer Behörden Behörde, -n (f.) das Amt; eine staatliche Institution mit einer bestimmten Aufgabe . Mit sechs Jahren kam Walter Emmisberger zu Pflegeltern Pflegeeltern (nur Plural) die Menschen, die sich für eine bestimmte Zeit anstelle der biologischen Eltern um ein Kind kümmern , einem Pfarrer Pfarrer, -/Pfarrerin, -nen die Person, die den Gottesdienst in einer Kirche leitet sehepaar, das ihn schwer misshandelte jemanden misshandeln jemanden schlagen oder etwas anderes tun, das bei anderen Menschen Schmerzen verursacht; jemanden mit Absicht verletzen .
WALTER EMMISBERGER:
Der Pfarrer hat mich halt viel an den Ohren gezogen und den Haaren und geschlagen und … in jemanden in etwas sperren jemanden mit Gewalt in etwas (z. B. einen Raum) bringen und nicht mehr rauslassen den Keller gesperrt jemanden in etwas sperren jemanden mit Gewalt in etwas (z. B. einen Raum) bringen und nicht mehr rauslassen oder in die Besenkammer Besenkammer, -n (f.) ein kleiner Raum, in dem man Putzsachen aufbewahrt .
SPRECHERIN:
Emmisberger ist schwer traumatisiert traumatisiert so, dass man unter einem schlimmen Ereignis, das man erlebt hat, leidet , kann bis heute kaum eine Kirche betreten etwas betreten in etwas gehen . Der Hausmeister hat ein kleines Museum im Keller des Gemeindehauses Gemeindehaus, -häuser (n.) ein Haus, das einer Kirche gehört und von der Kirchengemeinde genutzt wird seines Wohnortes Fehraltdorf eingerichtet. Hier wird das Leben spürbar spürbar hier: so, dass man etwas fühlen und miterleben kann , zu das [dem] ihn der Schweizer Staat verurteilt hatte. Der 64-Jährige und seine Mutter gehörten zu den rund 60.000 Menschen, die bis 1981 in der Schweiz von den Kanton Kanton, -e (m.) einer von 26 Bezirken in der Schweiz sbehörden „administrativ administrativ behördlich; die Verwaltung betreffend versorgt“ wurden, weil sie nicht der Norm entsprachen der Norm entsprechen so sein, wie es normalerweise üblich ist . Sie wurden in Gefängnisse Gefängnis, -se (n.) ein Gebäude, in dem man zur Strafe eine Zeit lang bleiben muss wie dieses gebracht. Hier wurde Emmisberger 1957 geboren.
WALTER EMMISBERGER:
Ich vermute, dass meine Mutter „administrativ versorgt“ wurde, weil sie ein uneheliches unehelich so, dass die Eltern eines Kinds nicht verheiratet waren, als es geboren wurde Kind erwartete. Und das war damals … hat man das so gemacht, dass man solche Mütter weggesperrt jemanden weg|sperren jemanden in einen Raum sperren, damit er von anderen Menschen getrennt ist hat. Das passte nicht in die Gesellschaft von der Schweiz damals.
SPRECHERIN:
Unter dem Vorwand unter dem/einem Vorwand scheinbar begründet; so, dass man etwas mit einem falschen Grund entschuldigt , sie seien liederlich liederlich hier: unmoralisch , trunksüchtig trunksüchtig altes Wort und abwertend für: alkoholabhängig oder arbeitsscheu arbeitsscheu faul , wurden sie ins Gefängnis, in sogenannte Pflegefamilien oder in die Psychiatrie Psychiatrie, -n (f.) hier: ein Ort, an dem psychisch kranke Menschen behandelt werden gebracht. Dort sollten sie umerzogen jemanden um|erziehen jemanden unter Zwang und verschiedene Erziehungsmaßnahmen dazu bringen, dass er sein bisheriges Verhalten ändert werden – mit Maßnahmen, die ihre komplette Entrechtung Entrechtung (f., nur Singular) die Entziehung oder das Wegnehmen von Rechten und Ausgrenzung Ausgrenzung, -en (f.) hier: die Tatsache, dass man bestimmte Personen nicht als Teil der Gemeinschaft akzeptiert zur Folge hatten. Historiker wie Urs Germann bestätigen, dass es sich nicht um Straftäter Straftäter, -/Straftäterin, -nen jemand, der etwas Kriminelles tut handelte. Er hat im Auftrag der Schweizer Regierung für eine unabhängige Untersuchungskommission geforscht.
URS GERMANN (Historiker an der Universität Bern):
Bei den „administrativ Versorgten“ ging es in der Regel nicht um Straftaten Straftat, -en (f.) die kriminelle/illegale Handlung , sondern einfach nur um eine Lebensweise, die nicht den gesellschaftlichen Normen entsprach.
SPRECHERIN:
Schicksale Schicksal (n., nur Singular) hier: die Ereignisse im Leben, die nicht beeinflusst werden können wie das von Walter Emmisberger werfen einen Schatten auf einen Schatten auf etwas werfen hier umgangssprachlich für: deutlich machen, dass etwas nicht so perfekt ist, wie es bisher angenommen wurde die Schweizer Geschichte. In rund 650 Gefängnissen und anderen Anstalten Anstalt, -en (f.) eine öffentliche Institution in der Schweiz wurden Kinder und junge Erwachsene eingesperrt, ausgebeutet jemanden aus|beuten jemanden viel für sich arbeiten lassen, ihn dafür aber nur sehr schlecht bezahlen und vielfach vielfach häufig; oft schwer misshandelt. Auch Emmisberger wurde hier im Haus seiner Pflegeeltern stundenlang eingesperrt. Er musste putzen, im Garten arbeiten und auf dem Feld. Er konnte uns nicht an den Tatort Tatort, -e (m.) der Ort, an dem eine Straftat begangen wurde begleiten jemanden begleiten hier: mit jemandem mitgehen . Ein Versuch endete vor ein paar Jahren in einer Panikattacke Panikattacke, -n (f.) die plötzliche, heftige Angst, die oft auch körperlich spürbar ist (z. B. durch Atemnot) .
WALTER EMMISBERGER:
Das war so komisch, und ich hab mich sich verkriechen sich verstecken da verkrochen sich verkriechen sich verstecken in einem Busch Busch, Büsche (m.) der Strauch; eine meist niedrige Pflanze mit viele Ästen und Blättern wie ein Tier. [Ich] hab wirklich geglaubt, jetzt ist’s vorbei.
SPRECHERIN:
Mit elf Jahren bringen ihn die Pfarrleute in die Psychiatrische Klinik Münsterlingen. Dort erreicht das Martyrium Martyrium, Martyrien (n.) hier: das großes Leid des Jungen eine neue Stufe: Am idyllischen idyllisch sehr schön und friedlich Bodensee testet der Klinikchef in den 60er-, 70er-Jahren an ihm Psychopharmaka Psychopharmakon, Psychopharmaka (n., meist im Plural) ein Medikament gegen psychische Krankheiten .
WALTER EMMISBERGER:
Also, was ich weiß, ist einfach, dass es mir viel übel übel hier: so sein, dass man ein drückendes, schweres Gefühl im Magen hat war, schlecht und … also hundsmiserabel hundsmiserabel umgangssprachlich für: sehr schlecht (vor allem in Bezug auf die Gesundheit) , dass ich auch plötzlich immer wieder so einen … wie einen Anfall Anfall, Anfälle (m.) das plötzliche Auftreten einer körperlichen Erscheinung, zum Beispiel Schwäche oder Übelkeit bekam, so.
SPRECHER:
„Das Tofranil scheint der Knabe Knabe, -n (m.) altes Wort für: der Junge nicht gut zu ertragen etwas ertragen schweizerisch für: etwas vertragen , und wir glauben, dass die unangenehmen Erscheinungen, die er zeigt, Nebenwirkungen Nebenwirkung, -en (f.) die negativen Folgen eines Medikaments dieser Medikation sind.“
WALTER EMMISBERGER:
Ja, da bekomme ich ein Schaudern schaudern eine körperliche Reaktion auf Gefühle wie Angst, Schrecken oder Ekel haben und frag mich: Wieso hat man das gemacht?
SPRECHERIN:
Die „administrativ versorgten“ Schweizer hatten keine Chance, dem System zu entkommen jemandem/etwas entkommen die Flucht aus etwas oder vor jemandem/etwas schaffen , das sie entrechtet hatte. Deshalb kämpft Walter Emmisberger nun öffentlich um Rehabilitation Rehabilitation, -en (f.) Wiederherstellung des Ansehens; Wiederaufnahme in die Gesellschaft . 25.000 Franken hat er aus einem Entschädigungsfonds Entschädigungsfonds, - (m.) der Geldvorrat, mit dem entstandene Schäden wiedergutgemacht werden sollen; Geldmenge, aus der Opfer von Unrecht Zahlungen bekommen der Schweiz bekommen. Der mitverantwortliche Kanton Thurgau aber schreibt: Es seien Medikamententests durchgeführt worden, aber mangels mangels etwas weil etwas fehlt weiterer Studien lasse sich das Ausmaß Ausmaß, -e (n.) hier: die Größe; die Menge noch nicht abschätzen etwas ab|schätzen hier: vermuten, wie etwas zusammenwirkt . Walter Emmisberger findet diese Hinhaltetaktik Hinhaltetaktik, -en (f.) ein Vorgehen, bei dem man mit Absicht etwas hinauszögert, nicht aktiv wird und andere so warten lässt unerträglich unerträglich schrecklich; furchtbar . Zehntausende Menschen seien vom Schweizer Staat entrechtet worden. Ihre Qual dürfe nicht vergessen werden.
WALTER EMMISBERGER:
Ja, ich wünsche mir auf jeden Fall, dass so etwas nie mehr passiert. Und auch, dass das in die Geschichtsbücher kommt, das ganze dunkle Kapitel dunkles Kapitel (n.) umgangssprachlich für: ein schlimmer Teil einer Geschichte da von der Schweiz.
Als Kind misshandelt – ein Schweizer Schicksal
jemanden ins Heim stecken — hier umgangssprachlich für: eine Person (meist ein Kind) gegen ihren Willen in einer Erziehungsanstalt unterbringen
Behörde, -n (f.) — das Amt; eine staatliche Institution mit einer bestimmten Aufgabe
Pflegeeltern (nur Plural) — die Menschen, die sich für eine bestimmte Zeit anstelle der biologischen Eltern um ein Kind kümmern
Pfarrer, -/Pfarrerin, -nen — die Person, die den Gottesdienst in einer Kirche leitet
jemanden misshandeln — jemanden schlagen oder etwas anderes tun, das bei anderen Menschen Schmerzen verursacht; jemanden mit Absicht verletzen
jemanden in etwas sperren — jemanden mit Gewalt in etwas (z. B. einen Raum) bringen und nicht mehr rauslassen
Besenkammer, -n (f.) — ein kleiner Raum, in dem man Putzsachen aufbewahrt
traumatisiert — so, dass man unter einem schlimmen Ereignis, das man erlebt hat, leidet
etwas betreten — in etwas gehen
Gemeindehaus, -häuser (n.) — ein Haus, das einer Kirche gehört und von der Kirchengemeinde genutzt wird
spürbar — hier: so, dass man etwas fühlen und miterleben kann
Kanton, -e (m.) — einer von 26 Bezirken in der Schweiz
administrativ — behördlich; die Verwaltung betreffend
der Norm entsprechen — so sein, wie es normalerweise üblich ist
Gefängnis, -se (n.) — ein Gebäude, in dem man zur Strafe eine Zeit lang bleiben muss
unehelich — so, dass die Eltern eines Kinds nicht verheiratet waren, als es geboren wurde
jemanden weg|sperren — jemanden in einen Raum sperren, damit er von anderen Menschen getrennt ist
unter dem/einem Vorwand — scheinbar begründet; so, dass man etwas mit einem falschen Grund entschuldigt
liederlich — hier: unmoralisch
trunksüchtig — altes Wort und abwertend für: alkoholabhängig
arbeitsscheu — faul
Psychiatrie, -n (f.) — hier: ein Ort, an dem psychisch kranke Menschen behandelt werden
jemanden um|erziehen — jemanden unter Zwang und verschiedene Erziehungsmaßnahmen dazu bringen, dass er sein bisheriges Verhalten ändert
Entrechtung (f., nur Singular) — die Entziehung oder das Wegnehmen von Rechten
Ausgrenzung, -en (f.) — hier: die Tatsache, dass man bestimmte Personen nicht als Teil der Gemeinschaft akzeptiert
Straftäter, -/Straftäterin, -nen — jemand, der etwas Kriminelles tut
Straftat, -en (f.) — die kriminelle/illegale Handlung
Schicksal (n., nur Singular) — hier: die Ereignisse im Leben, die nicht beeinflusst werden können
einen Schatten auf etwas werfen — hier umgangssprachlich für: deutlich machen, dass etwas nicht so perfekt ist, wie es bisher angenommen wurde
Anstalt, -en (f.) — eine öffentliche Institution
jemanden aus|beuten — jemanden viel für sich arbeiten lassen, ihn dafür aber nur sehr schlecht bezahlen
vielfach — häufig; oft
Tatort, -e (m.) — der Ort, an dem eine Straftat begangen wurde
jemanden begleiten — hier: mit jemandem mitgehen
Panikattacke, -n (f.) — die plötzliche, heftige Angst, die oft auch körperlich spürbar ist (z. B. durch Atemnot)
sich verkriechen — sich verstecken
Busch, Büsche (m.) — der Strauch; eine meist niedrige Pflanze mit viele Ästen und Blättern
Martyrium, Martyrien (n.) — hier: das großes Leid
idyllisch — sehr schön und friedlich
Psychopharmakon, Psychopharmaka (n., meist im Plural) — ein Medikament gegen psychische Krankheiten
übel — hier: so sein, dass man ein drückendes, schweres Gefühl im Magen hat
hundsmiserabel — umgangssprachlich für: sehr schlecht (vor allem in Bezug auf die Gesundheit)
Anfall, Anfälle (m.) — das plötzliche Auftreten einer körperlichen Erscheinung, zum Beispiel Schwäche oder Übelkeit
Knabe, -n (m.) — altes Wort für: der Junge
etwas ertragen — schweizerisch für: etwas vertragen
Nebenwirkung, -en (f.) — die negativen Folgen eines Medikaments
schaudern — eine körperliche Reaktion auf Gefühle wie Angst, Schrecken oder Ekel haben
jemandem/etwas entkommen — die Flucht aus etwas oder vor jemandem/etwas schaffen
Rehabilitation, -en (f.) — Wiederherstellung des Ansehens; Wiederaufnahme in die Gesellschaft
Entschädigungsfonds, - (m.) — der Geldvorrat, mit dem entstandene Schäden wiedergutgemacht werden sollen; Geldmenge, aus der Opfer von Unrecht Zahlungen bekommen
mangels etwas — weil etwas fehlt
Ausmaß, -e (n.) — hier: die Größe; die Menge
etwas ab|schätzen — hier: vermuten, wie etwas zusammenwirkt
Hinhaltetaktik, -en (f.) — ein Vorgehen, bei dem man mit Absicht etwas hinauszögert, nicht aktiv wird und andere so warten lässt
unerträglich — schrecklich; furchtbar
dunkles Kapitel (n.) — umgangssprachlich für: ein schlimmer Teil einer Geschichte