In Konflikten riskieren Journalistinnen und Journalisten ihr Leben. Viele sind gezwungen, ihre Heimatländer zu verlassen. Ihre psychologischen Herausforderungen anzuerkennen, ist ebenso wichtig wie ihr physischer Schutz.
Viele russische Journalistinnen und Journalisten, die ihr Land verlassen haben, weil sie weiterarbeiten wollten, haben in Lettland eine Exilheimat gefunden. Einige sagen, dass psychologische Dienste ihnen und anderen helfen könnten, sich in einem neuen Leben im Exil zurechtzufinden.
Sabine Sile, Vorstandsmitglied der DW Akademie-Partnerorganisation Media Hub Riga, hat viel Erfahrung mit Journalistinnen und Journalisten, die ihr Heimatland verlassen mussten. Im Projekt “Space for Freedom”, das bedrohte Journalistinnen und Journalisten unterstützt, hatte Sile aus erster Hand erfahren, was Medienschaffende im Exil belastet und was ihnen helfen könnte, sich anzupassen und weiterzuarbeiten.
"Die Identitätskrise von Journalisten im Exil ist real", sagt sie. "Diese Menschen haben mit vielen Dingen zu kämpfen, angefangen bei den Rückschlägen für ihre Arbeit bis hin zu der Angst vor einem möglichen Atomkrieg. Sie werden in ihren Ländern verachtet, und was noch schlimmer ist – ihre engsten Angehörigen bezeichnen sie oft als Verräter. Wir haben sogar Fälle erlebt, in denen Angehörige unseren Teilnehmenden sagten, sie gehörten nicht mehr zu ihrer Familie.”
Es sei schwierig, in einem fremden Land ganz von vorne anzufangen, wenn man als Vertreterin oder Vertreter eines terroristischen Staates gesehen werde, stellt Sile fest. Jüngere Journalistinnen und Journalisten, so fügte sie hinzu, schienen besonders traumatisiert zu sein, zum Teil weil sie ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen haben.
"Die offensichtliche Notlage dieser Menschen erfordert unsere kollektive Hilfe, um ihr Leid zu lindern", schlussfolgert Sile.
Verschiedene neuere Studien, in denen ukrainische und russische Exiljournalististinnen und -journalisten sowie Medienschaffende, die weiterhin in ihren Ländern arbeiten, untersucht wurden, zeigen, dass Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen sehr verbreitet sind.
Tarass Iwaschenko, ein Psychotherapeut, der mit Journalistinnen und Journalisten im Exil gearbeitet hat, sagt, er habe "den so genannten 'sozialen Tod' oder die anhaltende Abwesenheit von typischen sozialen Beziehungen sowie Anpassungsschwierigkeiten, Schlaflosigkeit, Angstzustände und zwanghaftes Denken" beobachtet.
"Es ging weit über posttraumatische Belastungsstörungen hinaus”, sagt Dr. Tarass Ivaschenko, ein Psychotherapeut in Estland, der mit Journalistinnen und Journalisten im Exil gearbeitet hat. "Ich habe das Phänomen des so genannten 'sozialen Todes' beobachtet. Das bedeutet, dass die längere Abwesenheit von sozialen Beziehungen zu Anpassungsschwierigkeiten, Schlaflosigkeit, Angstzuständen und zwanghaftem Denken führen. Die Teilnehmenden der Fokusgruppen berichteten auch von Schwierigkeiten, die große Menge und Intensität der Informationen zu "verarbeiten". Der Stress, eine neue Sprache und Kultur zu lernen und mit dem Gefühl der Isolation umzugehen, kann überwältigend sein.”
Der russische Journalist Mikhail B., der 2022 aus seinem Land geflohen ist, kann sich an das emotionale Leid auf der Reise in sein neues Leben in Estland erinnern.
"Seit ich ausgewandert bin, begleitet mich ein Unbehagen, es verursacht große Unsicherheit bei mir... Es ist, als hätte ich ein Haus verloren und es scheint fast unmöglich, es an einem neuen Ort wiederaufzubauen”, sagt er. Er habe keine Ahnung, wo er in sechs Monaten oder in einem Jahr sein werde, und er vergleicht seine Existenz mit einem "Leben auf dem Vulkan".
Russland hat die Zeitung, bei der Mikhail B. angestellt ist, inzwischen als ausländischen Agenten eingestuft.
"Das Exil bringt jede Facette deiner Existenz durcheinander”, fährt Mikhail B. fort. "Ich spreche von einer zerbrochenen Karriere, Geld- und Rechtsproblemen, Kulturschock und vielen anderen Integrationsproblemen. Und die Arbeit als Journalist, die von Natur aus stressig ist, trägt zu all dem bei. Und während wir alle über die russische Invasion und den Krieg in der Ukraine schreiben, durchleben wir das nicht enden wollende 'Trauma des Zeugen'. Journalisten stoßen heute auf sehr vielfältige psychologische Hindernisse."
Psychologische Unterstützung sei für Journalisten wie ihn auf lange Sicht von entscheidender Bedeutung. Und Therapeutinnen und Therapeuten, die selbst russische Wurzeln haben, seien sogar besonders wichtig, sagte er.
Die russische Fernsehproduzentin Anna K. pflichtet Mikhail bei und weist darauf hin, dass die Unterstützung der Gemeinschaft für die Genesung von entscheidender Bedeutung ist.
“Ich unterhalte mich häufig mit Kolleginnen und Kollegen, die aus Russland, der Ukraine und Belarus geflohen sind", sagt sie. "Im Laufe meiner Zeit hier habe ich viele neue Bekanntschaften gemacht und sogar Freundschaften geschlossen. Die Mitarbeitenden des Media Hub Riga waren unglaublich hilfreich, sowohl in rechtlicher Hinsicht als auch in Bezug auf die Anpassung an eine neue Umgebung. Menschen, die eine ähnliche Situation durchmachen, rücken eng zusammen. Heute ist es wichtiger denn je, dass wir einander die Hand reichen, Kontakte knüpfen und uns zusammentun, um Schwierigkeiten zu überwinden.”
Werden die Journalistinnen und Journalisten also die dringend benötigte Hilfe bekommen? Und welche Möglichkeiten haben sie noch, ihr Leben selbst zu gestalten? Sabine Sile hat einige Ideen.
Sabine Sile von Media Hub Riga ist der Ansicht, dass die Unterstützung durch die Gemeinschaft für im Exil arbeitende Journalistinnen und Journalisten von entscheidender Bedeutung ist und dass erschwingliche Dienste für psychische Gesundheit ausgebaut werden sollten, um den wachsenden Bedarf zu decken.
"Wir konzentrieren uns auf vorbeugende Maßnahmen und bieten Menschen, die kurz vor dem Aufgeben stehen, zusätzliche Therapiesitzungen mit Fachleuten aus der Psychiatrie an", sagt sie. "Wir mussten das Budget für dieses Projekt im Laufe des Jahres mehrmals aufstocken, da wir nicht mit einer so großen Nachfrage gerechnet haben."
Der Media Hub Riga, so fügt sie hinzu, habe intensive Erholungsprogramme entwickelt, die Exilanten nicht nur Zeit zum Ausruhen geben, sondern auch Schulungen und Strategien anbieten, die sie unterstützen können, bevor sie ausbrennen. So sollen sie trotz ihrer Umstände weiterarbeiten und ein erfülltes und gesundes Leben führen können.
Die DW Akademie führt das Projekt “Space for Freedom” als Netzwerkpartner der Hannah-Arendt-Initiative der Bundesregierung durch. Mit der Initiative unterstützen das Auswärtige Amt und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Journalistinnen und Journalisten, Medienschaffende sowie Verteidigerinnen und Verteidiger der Meinungsfreiheit, in Krisen- und Konfliktgebieten im Ausland und im Exil in Deutschland.