Ruf nach Wahrheit und Gerechtigkeit | Lateinamerika | DW | 30.08.2021
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Lateinamerika

Ruf nach Wahrheit und Gerechtigkeit

Sie zeigen ihren Schmerz, ihre Trauer und ihre Wunden in Liedern, Gedichten oder Malereien. Die Angehörigen von Verschwundenen in Mexiko nutzen Kunst, um gegen ihre Stigmatisierung und gegen das Vergessen zu kämpfen.

Es war mitten in der Nacht in Coatzacoalcos, einer Hafenstadt im Südosten Mexikos, als Raquel und José Manuel Hernández vom Lärm vor ihrem Fenster aufwachten. Alarmiert und in Angst um sein Taxi lief José nach draußen, während Raquel die gemeinsame Tochter in Sicherheit brachte. Seit diesem Tag im Mai 2015 ist er nicht wieder aufgetaucht. Wie viele andere Männer aus Coatzacoalcos wurde er Opfer eines der schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Dem Gewaltsamen Verschwindenlassen. Dieser sperrige UN-Begriff bedeutet, dass José Manuel Hernández gegen seinen Willen der Freiheit beraubt wurde. Niemand weiß, wo er ist.

Mexiko Raquel sucht zusammen mit ihrer Tochter nach ihrem verschwundenen Ehemann

Raquel sucht seit 2015 nach ihrem Mann. Ihre sechsjährige Tochter trägt ein T-Shirt mit dem Foto ihres Vaters und der Aufschrift "Ich suche meinen Papa".

Die Verschwundenen in Coatzacoalcos sind keine Ausnahme. Seit 2006, dem Beginn des Drogenkriegs, gelten in Mexiko 85.000 Menschen als vermisst. Pro Tag verschwinden elf Personen unfreiwillig und gewaltsam. Ihre Familien befinden sich damit in einem endlosen Zustand der Ungewissheit. Von politischen Entscheidungsträgern erhalten sie keine Hilfe und traditionelle Medien in Mexiko berichten kaum darüber. Die Tragödie wird marginalisiert, die Augen verschlossen und die Opfer stigmatisiert. Wer verschwindet, so die einhellige Meinung, muss irgendwie mit dem organisierten Verbrechen in Verbindung stehen. Dabei kann das gewaltsame Verschwindenlassen jeden treffen.

Enforced Disappearances in Mexico: Raquel Hernández

Técnicas Rudas, Partner der DW Akademie in Mexiko, wollte an dieser verzerrten Wahrnehmung etwas ändern. Doch wie kann die lokale Bevölkerung für das Thema ausreichend sensibilisiert werden? Wie stellt man sicher, dass die Stimmen der Familien Gehör finden? Wie erklärt man Unbeteiligten ihren Schmerz und ihre Trauer? Die Antwort: mit viel Empathie, Kunst und Dialog.

„Kunst und Poesie sind hilfreich, um schwierige und schmerzvolle Themen zu vermitteln. Die Menschen können so ihre Augen öffnen und anfangen zu handeln,“ sagt Itzell Sánchez, Projektleiterin bei Técnicas Rudas. Die Organisation unterstützt soziale Bewegungen und Menschenrechtsakteure durch strategische Forschung, den Einsatz von Technologie und Multistakeholder-Bündnisse.

Im Projekt “Narrativas y Memorias de la Desaparición en México” („Narrative und Erinnerungen über das Verschwinden in Mexiko“) brachten sie Kunst- und Medienschaffende sowie Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit Angehörigen wie Raquel Hernández zusammen. „Wir wollen ein Sprachrohr für die Familienmitglieder sein, damit sie mit ihrer Situation Gehör finden“, so Itzell.

Mexiko Familien von Opfern des Verschwindenlassens suchen nach ihren Familien

Beteiligte Künstler und Künstlerinnen begleiten Familien bei der Suche nach ihren Angehörigen auf einem Feld - ausgestattet mit Schaufeln und Stiefeln.

Der Musiker Arturo Muñoz Carcará verwandelte zum Beispiel zahlreiche Briefe, die die Angehörigen den vermissten Familienmitgliedern geschrieben hatten, in Lieder. Er schrieb auch den Song „yolpaquilistl“ („Freude“) mit ihnen, in der indigenen Sprache „nahuatl“, das die Familien nun als Hymne singen. "Es ist wichtig, neue Narrative zu entwickeln und Werke für die Öffentlichkeit zu schaffen, damit sie sich die Familien aneignen können. Sie mitnehmen können, zu jeder Versammlung und zu jeder Demonstration, die zu ihrem Kampf beitragen kann,“ sagt Arturo Muñoz.

Die Puppenmacherin Sandra Reyes nähte mit den Angehörigen Puppen in Bastelworkshops, um den Vermissten zu gedenken und sie in Erinnerung zu behalten. Auch Raquel Hernández hat eine Puppe genäht, sie trägt die Kleidung ihres Mannes José. Ihre Tochter Gema soll sie bekommen – so lange, bis ihr Vater zurückkommt.

Mexiko Familien von Opfern des Verschwindenlassens

Die Familien verkörpern ihre geliebten Verschwundenen in Puppen, um sie in Erinnerung zu behalten.

„Kunst ist eine universelle Sprache, die von allen gut verstanden wird. Auch Außenstehende können so den Schmerz erfahren, den wir empfinden“, resümiert Raquel ihre Erfahrung. „Ich wünsche mir, dass meine Mitmenschen nicht mehr so gleichgültig sind. Helft uns diesen Schmerz zu beenden; helft uns, denn es kann allen passieren.“

In dem Projekt von Técnicas Rudas sind insgesamt über 40 Theaterstücke, Lieder, Plakate, Künstlerische Aktionen im öffentlichen Raum, Gedichte, Fotografien und Künstlerbücher entstanden. Sie sind ein Ruf nach Wahrheit und Gerechtigkeit und zeigen die tiefe Wunde, die das Verschwindenlassen hinterlässt. Ab dem 30. August, dem Internationalen Tag der Opfer des Verschwindenlassens, werden die Kunstwerke zwei Wochen lang in Puebla, südöstlich von Mexiko-Stadt, ausgestellt. Zahlreiche virtuelle und vor Ort stattfindende Aktivitäten begleiten die Ausstellung.

Técnicas Rudas ist seit Anfang 2020 Projektträger der DW Akademie in Mexiko. Als unabhängige, lokale Organisation unterstützt sie Opfer des Gewaltsamen Verschwindenlassens in Mexiko durch strategische Recherchen und den Aufbau von Allianzen. Ziel der Unterstützung der DW Akademie ist es, Menschenrechtsthemen in der Bevölkerung sichtbarer zu machen. Das Projekt wird mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanziert.

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