Gegen das Schweigen: Mexikanische Lokalmedien schaffen Transparenz in der Corona-Krise | Lateinamerika | DW | 05.05.2020
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Lateinamerika

Gegen das Schweigen: Mexikanische Lokalmedien schaffen Transparenz in der Corona-Krise

„La Verdad de Juárez“ berichtet über Menschenrechtsverletzungen in Mexiko. Zuletzt deckten die Journalistinnen die Ursache eines Covid-19-Infektionsherdes in einem Textilwerk auf, über den die Behörden schwiegen.

Mexiko Journalistennetzwerk La Verdad de Juarez

Das Redaktionsteam von La Verdad de Juárez

Anfang April wecken Posts in unterschiedlichen öffentlichen Facebook-Gruppen die Aufmerksamkeit von Gabriela Minjáres und Rocío Gallegos. Die Rede ist von mehreren Covid-19-Infektionen in einem Textilwerk in Ciudad Juárez im Norden Mexikos. Die beiden Journalistinnen und Herausgeberinnen des unabhängigen Lokalmediums „La Verdad de Juárez“ entscheiden, selbst dem Gerücht nachzugehen, denn von öffentlicher Stelle gibt es keinerlei Informationen. Dann, am 11. April, eine erste öffentliche Stellungnahme des multinationalen Fahrzeugzulieferers Lear Corporation, der vor Ort Innenausstattung für PKW produziert: Man bedauere die Covid-19-Fälle unter den Mitarbeitenden, die trotz Schutzmaßnahmen aufgetreten seien. Am Folgetag bestätigt die lokale Gesundheitsbehörde: Bereits 13 Mitarbeitende eines der Lear-Werke in Ciudad Juárez seien an den Folgen des Virus verstorben.

„Kommunikation voller Ungereimtheiten“

Es bleibt bei dieser Meldung. Auch auf Nachfrage teilen weder Behörde noch Unternehmen weitere Informationen über die Vorkommnisse mit. Wie viele weitere Mitarbeitende erkrankt sind, bleibt unklar. "Die Kommunikation über den Vorfall war voller Ungereimtheiten. Die Behörde argumentierte mit dem Schutz der Persönlichkeitsrechte der Patienten. Dabei ist es im öffentlichen Interesse, zu erfahren, wie es an einem Ort zu so vielen Todesfällen kommen konnte“, berichtet Minjáres.

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Rocío Gallegos und Gabriela Minjáres, die beiden Gründerinnen von La Verdad de Juárez

Das Schweigen ist für die Journalistin und ihren Kolleginnen nicht neu. „La Verdad de Juárez“ ist Teil des von der DW Akademie geförderten Netzwerks „Periodistas de a Pie“ aus jungen, unabhängigen Lokalmedien. Mit ihrer Arbeit setzen sie dort an, wo andere bereits aufgegeben haben: Laut „Reporter ohne Grenzen“ ist Mexiko eines der gefährlichsten Länder für Medienschaffende, die Pressefreiheit ist stark eingeschränkt. Journalistinnen und Journalisten, die zu kritischen Themen berichten, sind ständiger Gefahr ausgesetzt.

In diesem Fall stehen die Journalistinnen von „La Verdad de Juárez“ einer mächtigen Textilindustrie gegenüber. Als wesentlicher Baustein des nordamerikanischen Handelsabkommens sorgt sie dank Niedriglöhnen und fehlender Arbeitnehmerrechte für eine kostengünstige Produktion für den US-amerikanischen Markt. Allein in Ciudad Juárez, der Stadt an der Grenze zu Texas, arbeiten rund 65% der gemeldeten Beschäftigten des formellen Sektors in der Branche.

In der Corona-Krise stellen die Produktionsstätten ein besonderes Risiko für die Mitarbeitenden dar. „Wir wollten, dass die Öffentlichkeit und die Arbeiter selbst verstehen, was in dem Werk passiert ist. Auch, weil viele der Angestellten und ihre Familienangehörigen unter Angst und Stigmatisierung litten. Es kursierten viele Falschinformationen darüber, wie sich der Virus verbreitet hatte“ so Minjáres. Sie und ihre Kollegin Itzel Ramírez machten es sich zur Aufgabe, die Wahrheit aufzudecken und mit fundiertem Journalismus den Spekulationen entgegenzuwirken.

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Das Gelände der Lear Corporation in Ciudad Juárez

Sie suchten persönlich Familienangehörige und Mitarbeitende des Unternehmens auf. Doch die Recherchen über den Sektor sind nicht ungefährlich. Medienschaffende, die kritisch recherchieren, werden bei ihrer Arbeit bedroht und eingeschüchtert. Zudem herrscht in Mexiko allgemeines Misstrauen gegenüber den Medien. Gleichzeitig fürchten viele Arbeiterinnen und Arbeiter, ihren Job zu verlieren oder bedroht zu werden, wenn sie sich gegen die Megakonzerne richten.

Von Europa nach Ciudad Juárez

In den Interviews erhärtet sich der Verdacht, dass das Virus aus Europa eingeschleppt wurde, wo es zahlreiche Werke des Unternehmens gibt. Insgesamt ist Lear in 39 Ländern vertreten. So berichten Zeugen, dass in der Woche vom 9. März eine Gruppe aus Europa das Werk besuchte. Es wurden keinerlei Vorsichtmaßnahmen getroffen. In derselben Woche erklärte die WHO das Coronavirus offiziell zur Pandemie.

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„Wir wollten, dass die Öffentlichkeit und die Arbeiter selbst verstehen, was in dem Werk passiert ist", sagt Gabriela Minjáres.

Bereits eine Woche später zeigten diverse Mitarbeitende Symptome wie Müdigkeit, Gliederschmerzen, Husten und Fieber. Viele suchten die betriebliche Krankenschwester des Werkes auf, die ihnen Allergien oder Erkältungen attestierte, und Schmerztabletten anbot, damit sie zur Arbeit zurückkehren konnten.

Entgegen der offiziellen Angaben der Firma gaben die betroffenen Mitarbeitenden an, dass keine bzw. nur unzureichende Sicherheitsmaßnahmen getroffen wurden. Zwar begann die Firma Ende März damit, die Temperatur einiger Mitarbeitenden zu messen, die Maßnahme sei jedoch nicht konsequent erfolgt: Gemessen wurde ohne Sicherheitsabstand, zudem habe man nicht die vollständige Belegschaft einbezogen. Auch das verfügbare Desinfektionsmittel sei lediglich an Führungskräfte und Administration verteilt worden.

Auch als Lear Anfang April schloss, nachdem die mexikanische Regierung offiziell zur Einstellung aller nicht essentiellen Tätigkeiten aufrief, informierte sie ihre Belegschaft nicht darüber, dass inzwischen zahlreiche Angestellte Symptome des Virus aufzeigten.

Lear Corporation kein Einzelfall

Mit 24,000 Mitarbeitenden, die das Unternehmen in Ciudad Juárez beschäftigt, ist Lear eines der Größten. Die Firma hat inzwischen Sicherheitsmaßnahmen ergriffen und Geld an diverse mexikanische Gesundheitsorganisationen gespendet. Doch auch in anderen Firmen der Branche kam es bereits zu Corona-bedingten Todesfällen. Während Lear im April die Werke schloss, hielten sich einige andere Unternehmen des Sektors nicht an die Auflagen. Erst nach Protesten der Belegschaft, Aufmerksamkeit durch die Medien und letztlich einer Verwarnung durch die Behörden wurden sie geschlossen.

Doch der Druck aus den USA ist groß. Ohne die Produkte aus Ciudad Juárez entstehen Engpässe. Der amerikanische Botschafter in Mexiko plädierte auf Twitter für eine Öffnung der Produktionsstätten. Gabriela Minjáres glaubt trotzdem, dass die COVID-Krise auch eine Chance darstellt. Denn erstmals rückten die Strukturen des Sektors ins Licht der Aufmerksamkeit. „Vielleicht werden die Behörden nun ein besseres Auge auf die Arbeitsbedingungen haben“, hofft Minjáres, „vor allem aber haben die Arbeiter selbst zum ersten Mal ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass sie Rechte haben, die sie öffentlich einfordern können“. Minjáres und ihre Kolleginnen und Kollegen von „La Verdad de Juárez“ sorgen weiterhin dafür, dass diese dann auch gehört werden.

 

La Verdad de Juárez ist eines von 12 unabhängigen Medien der Allianz "Periodistas de a Pie" und seit Jahresbeginn Projektträger der DW Akademie in Mexiko. Als unabhängiges, lokales Medium berichtet sie unter besonders schwierigen Umständen über die kontinuierlichen Verbrechen gegen die Menschenrechte. Ziel der Unterstützung der DW Akademie ist es, die Relevanz der Medien zu erhöhen und die Berichterstattung zu Menschenrechtsthemen auszubauen.

 

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