Der Einsatz für die Umwelt ist nirgendwo so gefährlich wie in Lateinamerika. In einem neuen Bericht zieht das investigative Datenjournalismus-Projekt Tierra de Resistentes eine erschütternde Bilanz.
Tierra de Resistentes: Die Recherche vor Ort und die länderübergreifende Zusammenarbeit ist bedeutend für das Projekt.
“Welches Medium in Honduras kann allein die Ressourcen zur Verfügung stellen, um knapp 700 Fälle von bedrohten Umweltaktivisten zu recherchieren? Keines!”, sagt Jennifer Avila Reyes, Mitbegründerin der unabhängigen crossmedialen Recherche-Plattform Contracorriente. Honduras ist nach Brasilien das zweitgefährlichste Land Lateinamerikas für Naturschützerinnen und Naturschützer. Gleichzeitig sind dort die Bedingungen für unabhängigen Journalismus extrem schwierig. Die internationale Zusammenarbeit bei Tierra de Resistentes ermöglichten Contracorriente umfassende Recherchen und Reportagen über die indigene Gemeinschaft der Tolupan in Yoro, die wegen ihres Widerstands gegen die Zerstörung ihres Lebensraums massiv bedroht werden. “Die Behörden schließen sonst immer die Tür vor uns, wenn wir Informationen über diese Fälle benötigen. Und auch die Betroffenen haben Angst davor, mit uns zu sprechen. Allein die Tatsache, dass wir Teil eines großen Projekts mehrerer Medien mit internationaler Tragweite sind, hat uns diese Türen geöffnet”, sagt Reyes.
Das investigative Datenjournalismus-Projekt Tierra de Resistentes (dt. „Land der Widerständigen“) wurde von der kolumbianischen Journalisten-Vereinigung Consejo de Redacción mit Unterstützung der DW Akademie ins Leben gerufen. Das Ziel: das Schicksal der zahlreichen bedrohten und getöteten Umweltaktivistinnen und -aktivisten in Lateinamerika ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Gleichzeitig fungiert die lebende Datenbank als Ressource für andere Medienschaffende sowie für Wissenschaft und Politik. Neben Datenvisualisierung erzählt das Projekt außerdem in Video, Audio und Text die persönlichen Geschichten hinter den Zahlen. Nach einer ersten Veröffentlichung im Frühjahr 2019 hat Consejo de Redacción die Datenbank und die dazugehörige Website nun aktualisiert und um weitere Fälle und Länder ergänzt.
In El Hatillo im kolumbianischen Departmento César schützen sich Umweltaktivisten mit kugelsicheren Westen.
Knapp 2.400 Fälle von Gewalt gegen Umweltaktivisten
In der aktualisierten Fassung ziehen die Journalistinnen und Journalisten von Tierra de Resistentes eine erschütternde Bilanz: Insgesamt 2.367 Fälle von Gewalt gegen Umweltaktivistinnen und –aktivisten in ganz Lateinamerika wurden in den vergangenen elf Jahren dokumentiert. Zehn Länder sind vertreten: Bolivien, Brasilien, Ecuador, Guatemala, Kolumbien, Mexiko, Peru, Venezuela, Argentinien und Honduras. Sechs davon zählen weltweit zu den zehn gefährlichsten Ländern für Umweltaktivisten. Ein Team von 50 Journalistinnen und Journalisten, Fotografinnen und Fotografen sowie Kameraleuten recherchierte für Tierra de Resistentes in staatlichen Einrichtungen, Pressearchiven, zivilgesellschaftlichen Organisationen und in den betroffenen Gemeinden. “Keine der bisherigen Bestrebungen, diese Bedrohung zu dokumentieren, kann ein derart breites Spektrum an erhobenen Daten und noch weniger eine journalistische Aufarbeitung der Hintergründe bieten”, sagt Andrés Bermúdez Liévano, Chefredakteur von Tierra de Resistentes.
Andrés Bermúdez Liévano interviewt ein Mitglied der Shuar Gemeinde in Süd-Ecuador. Großangelegte Bergbauprojekte eines chinesischen Unternehmens führten zu Zwangsräumungen, die von ihm dokumentiert werden.
Ein wesentlich umfassenderes Bild der Lage
UN-Sonderberichterstatter Michel Forst veröffentlichte 2016 erstmals einen Bericht über die Lage von Umweltaktivistinnen und –aktivisten weltweit. Seither wurden sowohl regional als auch global nur wenige neue Statistiken darüber erhoben. Zudem sei das wirkliche Ausmaß der Bedrohung nicht deutlich geworden, so Bermúdez, da nicht das gesamte Spektrum an Aggressionen gemessen, sondern zumeist nur die Zahl getöteter Aktivistinnen und Aktivisten registriert wurde. Tierra de Resistentes dokumentiert deshalb verschiedene Arten von Gewalt, darunter physische Angriffe, Vertreibungen, juristische Schikanen sowie sexuelle Übergriffe, und bildet damit ein wesentlich umfassenderes Bild der Lage in den zehn untersuchten Ländern ab.
Ethnische Minderheiten besonders betroffen
Fast die Hälfte der registrierten gewaltsamen Aktionen (48%) richteten sich laut der Datenbank gegen Mitglieder ethnischer Minderheiten: 159 indigene Ethnien waren betroffen – elf davon gelten als vom Aussterben bedroht. Die traurige Tatsache dabei ist, so Andrés Bermúdez, dass „diese Menschen oft als unterentwickelt dargestellt werden, anstatt ihre Rolle als Beschützerinnen und Beschützer eines Gemeinguts anzuerkennen“. Damit ist die Gewalt gegen diese Umweltaktivistinnen und –aktivisten quasi legitimiert von den Angreifenden.
Das Ziel von Tierra de Resistentes ist nicht nur, die Daten zu registrieren, sondern darin auch Muster offenzulegen. So zeigt das Datenjournalismus-Projekt ganz deutlich: Aktivistinnen und Aktivisten, die sich in Landkonflikten engagieren, sind am stärksten gefährdet und die Bedrohung geht in den meisten Fällen von der Agrarindustrie aus.
In der Amazonasregion ist das Ausmaß der Gewalt außerdem besonders groß. Die Berichte von Tierra de Resistentes zeigen, wie Dutzende von indigenen Gebieten, angestammten Gemeinschaften und Nationalparks im gesamten Amazonasbecken Ziel von Angriffen und kriminellen Interessen sind. Es wurden beispielsweise Fälle dokumentiert, in denen Fremde in indigene Gebiete eindrangen, das Militär indigene Autoritäten angriff, Ölfirmen die Verantwortung für verseuchte Wasserquellen leugneten, Drogenbosse die Gemeinden zum Koka-Anbau zwangen, Nationalparkwachen ermordet wurden und Edelholzfäller gegen Widerständige vorgingen.
Projekte wie Tierra de Resistentes sind auch im globalen Kontext relevant: Die öffentlichen Diskussionen um den Klimawandel haben weltweit deutlich zugenommen und in diesem Zug auch das Interesse an den Menschen, die das Weltklima schützen. Die Journalistinnen und Journalisten von Tierra de Resistentes hoffen, dass durch ihre solide recherchierten Informationen die Debatte weiter vorangetrieben wird und sie damit auch juristische Verfahren in den betroffenen Ländern einleiten können, denn die ungenügende strafrechtliche Verfolgung von Verbrechen ist immer noch eines der schwerwiegendsten Probleme in Lateinamerika.