Zum Jahrestag des russischen Angriffs blickt die DW Akademie auf die Arbeit lokaler Medien in der Ukraine zurück, die trotz aller Widrigkeiten viel geleistet haben.
Besetzt dann befreit, überflutet und beschossen - Cherson ist zum Sinnbild der ukrainischen Kriegswirklichkeit nach der russischen Invasion geworden. Die Stadt und die gleichnamige Region waren in den vergangenen zwei Jahren unzähligen existenziellen Bedrohungen ausgesetzt. Der Süden der Ukraine bekam die Verwüstungen des Krieges früh zu spüren: Cherson kapitulierte am 1. März 2022, weniger als eine Woche nach dem russischen Einmarsch. Viele Ukrainer, die in der Region lebten, darunter auch zahlreiche Journalisten, hatten keine andere Wahl als zu fliehen.
"Das russische Militär hatte es auf Journalisten abgesehen", erinnert sich Ilona Korotitsyna, Mediendirektorin von Vgoru, einem kleinen Medienunternehmen, das über die Region berichtet. "Sie boten Medienschulungen an und wollten, dass wir mit ihnen zusammenarbeiten." Viele, die diese Schulungen nicht besuchten, wie Korotitsyna und ihr Team bei Vgoru, sahen sich mit einem unausgesprochenen Ultimatum konfrontiert: Mitmachen oder selbst zur Zielscheibe werden. Korotitsyna und die Vgoru-Reporterin Liza Zharkyh beschlossen, in nahe gelegene andere Städte umzuziehen.
Trotz der neuen logistischen Hürden berichtete Vgoru weiterhin über die Geschehnisse in der Region. Als unabhängiges Medienunternehmen mit weniger als dreißig Beschäftigten bemühten sie sich nach Kräften, über das besetzte Cherson zu informieren.
Doch diese Berichterstattung war stark eingeschränkt. Kontaktpersonen riskierten ihre Freiheit und unter Umständen ihr Leben, um Informationen zu übermitteln, die sie verwerten konnten. "Meistens erhielten wir nur Fotos", erklärt Zharkyh, als sie sich an die ersten Kriegsmonate erinnert. "Es war zu gefährlich, Videos aufzunehmen."
Nach der ukrainischen Gegenoffensive im November 2022 wurde die russische Armee auf das linke Ufer des Dnipro-Flusses zurückgedrängt. Die Stadt Cherson war befreit. Ein Triumph für die Ukraine, doch die Probleme Chersons waren damit noch lange nicht vorbei. "Als die Russen abzogen, ließen sie die Stadt ohne Strom, ohne Wasser und ohne Kommunikationsverbindungen zurück", sagt Zharkyh. Darüber hinaus blieb das russische Militär eine Flussbreite von Cherson entfernt, in Sichtweite und kontrollierte weiterhin das linke Ufer des Dnipro. Doch nach und nach begann die Stadt wieder zu funktionieren, und das Vgoru-Team nahm seine Arbeit vor Ort wieder auf.
Trotz der Erfolge des ukrainischen Militärs bleibt die Region Cherson weiterhin ein Schauplatz ständiger Kämpfe. Mit der Zerstörung des Wasserkraftwerks Kachowka im Juni letzten Jahres verschlechterte sich die Lage für die noch unter russischer Besatzung stehenden Menschen weiter. Der Damm des Flusses Dnipro brach und das russisch kontrollierte Ufer wurde überflutet, wodurch 40 Gemeinden auf der Südseite zerstört und eine Umweltkatastrophe ausgelöst wurde. "Viele Häuser standen monatelang einen Meter hoch im Wasser", sagt Zharkyh, die Informationen vom linken Ufer nur über anonyme oder öffentlich zugängliche Quellen erhält.
Auf der rechten Uferseite der Stadt verläuft auch heute noch die Front. Nur ab und zu gibt es über den Messenger-Dienst Telegram Updates vom anderen Ufer. Täglich schlagen Granaten in der Stadt ein. Weniger als ein Drittel der Einwohner sind geblieben. "Es gibt nur sehr wenig Arbeit. Schulen und Kindergärten sind geschlossen", so Korotitsyna. "Trotzdem ist die Stadt ein Wunder, und die einfachen Arbeiter der Versorgungsbetriebe, die Ladenbesitzer und Busfahrer sind zu wahren Helden geworden."
Trotz alledem hat es Vgoru geschafft, weiter zu recherchieren und Geschichten aus und über Cherson zu veröffentlichen. Doch Korotitsyna, Zharkyh und das Vgoru-Team müssen noch immer kämpfen, um ihren Betrieb aufrechtzuerhalten. Der Krieg hat die Werbeeinnahmen gleich zu Beginn der Invasion versiegen lassen, und es gibt kaum Aussichten, dass das Vorkriegsniveau in absehbarer Zeit wieder erreicht wird.
Mit Hilfe des MediaFit-Projekts, das von der Europäischen Union finanziert und vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstützt wird, konnte Vgoru die Produktion weiterführen. Eine neue Website ist in Arbeit und der kürzlich produzierte Dokumentarfilm "Unconquered Kherson" lief in der ganzen Ukraine und auch im Ausland.
MediaFit, ein Gemeinschaftsprojekt der DW Akademie, Canal France International und des litauischen öffentlichen Rundfunks LRT, unterstützt unabhängige und lokale Medien, insbesondere im Süden und Osten der Ukraine. Das Projekt konzentriert sich auf das wirtschaftliche Überleben von Medien und bietet Zuschüsse, maßgeschneiderte Beratung und Fortbildungsmöglichkeiten für 14 Medienhäuser. Damit konnten unabhängige Medien erhalten und sogar weiterentwickelt werden, in Regionen, in denen es kaum Werbemöglichkeiten oder andere Einnahmequellen gibt.
"Die finanzielle Unterstützung, die wir den ukrainischen Medien in Form von Zuschüssen gewähren, ist für sie im Moment überlebenswichtig. Die Medienorganisationen, mit denen wir zusammenarbeiten, werden aber noch jahrelang von dem Wissen profitieren, das sie über das Projekt erhalten", so MediaFit-Projektmanagerin Yana Naralska.
Während sich MediaFit um das wirtschaftliche Überleben von Medien kümmert, arbeitet die DW Akademie mit anderen vom BMZ geförderten Projekten am Aufbau von Kapazitäten. Seit 2014 hat das Team mit lokalen Partnern Hunderte Medienschaffende geschult und landesweit Hochschulprojekte entwickelt. Von Sicherheit bis hin zu psychischer Gesundheit – mit den vom BMZ geförderten Projekten bildet sich ein Netzwerk von Journalistinnen und Journalisten, die gelernt haben, mit den Herausforderungen umzugehen, die ihnen tagtäglich in ihrem Land begegnen, das von Desinformationskampagnen und Cyberangriffen heimgesucht wird.
"Wir bauen eine Community von Medienschaffenden über das ganze Land hinweg auf", sagt Programmdirektor Kyryl Savin von der DW Akademie. "Wir wollen außerdem hyperlokale und lokale Medien stärken und den Pluralismus in der Region fördern." Die Entwicklung, die durch MediaFit- und die BMZ-Projekte angestoßen wird, kann ein komplexer und schwieriger Prozess sein, doch die Erfolge sind beachtlich. Sender wie Vgoru sind Beispiele für die enorme Widerstandsfähigkeit der vergangenen zwei Jahre. Mit seiner Berichterstattung bietet das Team den Bewohnern ihrer Stadt und auch denjenigen, die weit weg sind von den Frontlinien, eine lokale Perspektive, die gebraucht wird, um die Realität im heutigen Cherson zu verstehen.