Tamara Keller absolvierte von September 2017 bis Februar 2018 ihren Freiwilligendienst in der DW Akademie-Außenstelle in Accra, Ghana. Ihr Fazit nach 6 Monaten: „Das Aufeinandertreffen von Kulturen hinterlässt Spuren“.
Das Haus mit der orangefarbenen Mauer in der Okodan Road – so nenne ich mein Zuhause in Ghana, weil es hier keine Hausnummern gibt. Meine Nachbarinnen nennen das Haus anders. „Lebst du auch im Obroni-Haus?“, fragt mich die Nachbarin von gegenüber. Obroni ist das Twi-Wort für eine weiße Person, denn hier leben nur Weiße. Die Nachbarin betreibt einen kleinen Laden in ihrer Holzhütte mit Blechdach, bei dem ich alles kaufen kann. Die gesamte Okodan Road besteht aus solchen Läden. Meine Nachbarinnen sind alle Geschäftsfrauen. Doch obwohl ich so oft bei ihnen einkaufe, weiß ich gar nicht, wer sie sind.
Das Haus mit der orangefarbenen Mauer in der Okodan Road – für sechs Monate das Zuhause von Tamara Keller
„Du kannst mich immer alles fragen“ – Naa Edoh, 40
Vor dem ersten Kiosk stapeln sich rechts fünf Liter Wasserkanister neben großen und kleinen Trinkflaschen. Links häufen sich die Plastiksäcke, in denen sich das sogenannte „Pure Water“ befindet: Ein Sack beinhaltet 30 kleinere Plastikverpackungen die jeweils mit 500 Millilitern Wasser gefüllt sind. Es ist die billigste Art in Ghana an Trinkwasser zu gelangen.
Im Hof zwischen Kiosk und Haus sitzt meine Nachbarin auf einem roten Stuhl an einem roten Plastiktisch. Eine Freundin sitzt neben ihr, ein Kleinkind auf dem Schoß. Als mich die Nachbarin sieht, steht sie sofort auf und kommt lächelnd auf mich zu. Ich bestelle wie immer das Zwölferpack à 750ml-Wasserflaschen. Als ich bezahle, erkundige ich mich, ob ich noch etwas fragen darf. „Na klar, du kannst mich immer alles fragen“, sagt die Wasser-Verkäuferin und lacht.
Ihr Name ist Naa Edoh, ich darf sie Naa nennen. Sie lebt mit ihrer Familie im Haus hinter dem Wasser-Kiosk, ihrem Geschäft. „Pro Tag verkaufe ich etwa 20 bis 25 Säcke Pure Water. Und von den Flaschen sicherlich dreißig Packungen.“ Sie bestellt bei einer größeren Firma und bezahlt im Voraus. Einmal pro Woche liefert ein Lastwagen die vollen Säcke, Flaschen und Kanister. Wie sie auf die Idee kam? „Ich wusste einfach, dass ich Wasser verkaufen will“, sagt sie.
“So jetzt will ich erzählen!“, sagt die Freundin. Sie ist mir noch nie zuvor in der Okodan Road aufgefallen. „Ich wohne im gleichen Haus wie Naa und mir gehört der Kleiderladen da drüben.“ Sie zeigt auf einen kleinen Pavillon aus Metallstäben, mit einer blau-weiß gestreiften Plastikplane als Dach. Unter der Plane sind verschiedene Kleidungsstücke mit Kleiderbügeln befestigt.
Bezahlbare Kleider – Linda Mensah, 32
Monatlich bekommt Linda Mensah neue Outfits aus England. „Ich habe eine Schwester, die dort in einer Boutique arbeitet. Ich schicke ihr Geld und sie kauft aus dem Angebot ein.“ Wenn eine neue Ladung in Accra ankommt, greift Linda Mensah zum Telefon: „Ich habe die Nummern von all meinen Kunden. So kann ich sichergehen, dass sie bekommen, was sie wollen.“ Die Kleider, die dann übrig sind, hängt sie auf, um damit neue Kunden neugierig zu machen.
Bevor sie den Laden eröffnete, war Linda Mensah fest bei einer Firma angestellt: “Als ich dann schwanger wurde, war für mich klar, dass es schwierig wird, gleichzeitig zu arbeiten und für die Familie da zu sein.“ Deshalb machte sie ihr eigenes Geschäft auf. „Mein Ziel ist es, Kleidung für diejenigen bezahlbar zu machen, die sich die teuren Sachen in Accra nicht leisten können.“
Die „Bottles-Lady“ – Susanna Menu
„Wo sind meine Flaschen?“ ruft mir eine weitere Nachbarin zu, als ich den „Wasser-Kiosk“ verlasse. Links von meinem Zuhause steht ein kleiner gelber Container, der auf einer Erhebung aus Ziegelsteinen steht. Ist der Container offen, sind die beiden riesigen Pepsi-Aufsteller aus Pappe, die an den Türen befestigt sind, nicht zu übersehen. Die Innenausstattung besteht aus mehreren leeren Kisten und einem einzelnen Kühlschrank. Hier werden eisgekühlte Softgetränke verkauft, von Sprite, Cola, Pepsi und Mirinda bis hin zu Club, das in Ghana produzierte Bier. Normalerweise werden in solchen Getränkeläden die Glasflaschen nicht mitverkauft: Heißt, ich muss eigentlich alles was ich dort kaufe, direkt austrinken.
Aber mit meiner Nachbarin habe ich einen Deal ausgehandelt: Ich darf die Flaschen mit nach Hause nehmen, wenn ich sie wieder zurückbringe. Meine Mitbewohnerin und ich sprechen, deshalb nur von der „Bottles-Lady“. Ihr richtiger Name ist Susanna Menu. „Es ist wichtig, dass ihr mir die Flaschen zurückbringt. Mit den leeren Flaschen bekomme ich wieder neue beim Getränkehändler.“ Pro Tag verkauft Susanna Menu ungefähr einen Kasten an Getränken. Den Laden führt sie bereits in der zweiten Generation, ihre Mutter hat ihn eröffnet. Ihr Alter will sie mir nicht verraten. „Sie ist zwanzig, das siehst du doch“, mischt sich ein anderer Kunde in unser Gespräch ein. Susanna Menu lacht laut, während sie für mich zwei Cola-Flaschen in eine Tüte packt. „Denk aber dran, mir die Flaschen so schnell wie möglich zurückzubringen.“
Mit vollen Einkaufstüten gehe ich munter ins „Obroni“-Haus zurück. Ich bin froh, dass ich heute mit den Verkäuferinnen mehr gesprochen habe als das übliche „Hallo, ich hätte gerne eine Pepsi!“. Und ein kleines bisschen ärgere ich mich, dass ich nicht schon früher das Gespräch gesucht habe. Denn jetzt fällt mir auf, was die Straße, die sich für ein halbes Jahr mein Zuhause nennt, so ausmacht: Die Herzlichkeit meiner Nachbarinnen, die als Selbstständige ihren Lebensunterhalt bestreiten. Damit gehören sie zum Typus erfolgreicher Unternehmerinnen – fast die Hälfte aller ghanaischen Unternehmen sind in den Händen von Frauen.
Im Rahmen ihres kulturweit-Freiwilligendienstes unterstützte Tamara Keller das Büro der DW Akademie vor Ort und half bei der Organisation von Journalismus-Workshops. Sie sagt über ihre Zeit in Ghana: „Wenn zwei so unterschiedliche Kulturen wie die ghanaische und die deutsche aufeinander prallen, hinterlässt das Spuren. Besonders Begegnungen und Gespräche mit interessanten Menschen haben mich nachhaltig geprägt. Obwohl ich mir vor kulturweit bereits meiner Privilegien bewusst war, sind sie jetzt präsenter denn je."