Junge Geflüchtete in Kenia lernen, Audiobeiträge zu produzieren. Doch für allem teilnehmende Reporterinnen stehen oft vor besonderen Herausforderungen.
Sudi Omar Noor steht um vier Uhr morgens auf. Es ist noch dunkel im Kakuma Geflüchtetencamp im Nordwesten Kenias. Die 23-Jährige macht Frühstück und bereitet das Mittagessen vor für den sechsköpfigen Haushalt ihrer Tante. In der somalischen Gemeinschaft, in der Sudi lebt, gelten Kochen und Hausarbeit als Aufgabe der Frau. Ihre Tante hat das Haus bereits verlassen. Sie betreibt ein kleines Geschäft in einer der belebten Einkaufsstraßen des Lagers. Damit hat Sudi viele Aufgaben zu bewältigen: „Meine Mutter ist mit meinen jüngeren Brüdern zurück nach Somalia gegangen. Ich habe vor drei Jahren aufgehört, zur Schule zu gehen, um zu arbeiten, damit ich meine Familie unterstützen kann“, lacht Sudi. Es ist ein fröhliches Lachen mit einem Hauch von Frustration.
Sudi floh 2008 mit ihrer Mutter und sieben Geschwistern aus Somalia. Ihre Mutter habe ihre Kinder immer gleich behandelt, erzählt sie. Alle vier Söhne und vier Töchter sollten zur Schule gehen. Sie wollte, dass ihre Töchter die Chancen haben, die ihr verwehrt wurden, erinnert sich Sudi. Als Sudi um acht Uhr das Haus verlässt, brennt die Sonne bereits auf den trockenen Boden und jeder Schritt wirbelt Staub von der Straße auf. Sie beeilt sich, eines der begehrten Motorradtaxis, genannt Boda Bodas, zu erwischen. Einmal hat sie keins bekommen und musste laufen. Jungen erkannten sie auf der Straße und warfen mit Steinen nach ihr. Sie nannten sie eine Schande für die somalische Gemeinschaft und sagten, dass ihre Stimme nicht im Radio zu hören sein sollte. „Ich habe nicht viele Freunde in meiner eigenen Gemeinschaft“, sagt Sudi. „Die Mütter sagen, ich hätte einen schlechten Einfluss auf ihre Töchter. Also halte ich mich fern. Aber das ist mein Leben. Ich tue nichts Schlechtes.“
Sudi ist Community-Reporterin für das Audioprogramm „Sikika“, das von der kenianischen Organisation COME Initiative in Zusammenarbeit mit der DW Akademie produziert wird. Die 18 Reporterinnen und Reporter - die Hälfte von ihnen sind Frauen - versorgen die Geflüchtete und Einheimische mit Informationen über das Leben im Lager. Viele der Frauen, die bei Sikika arbeiten, haben ähnliche Lebensgeschichten wie Sudi und müssen ähnliche Herausforderungen meistern, um ihren Beruf auszuüben. Sie habe oft daran gedacht, aufzuhören, sagt Sudi. Aber jedes Mal habe Sikikas Redakteur Taphine Otieno sie davon überzeugt, weiterzumachen. „Er ist nicht nur mein Chef“, sagt Sudi, „er ist auch ein Freund, Lehrer und Mentor. Er erinnert mich immer daran, dass es mein Traum ist, Journalistin zu werden, und dass ich das nicht aufgeben darf.“
In der Zwischenzeit sind Sudi und ihre Reporterkolleginnen und -kollegen in dem umgebauten Schiffscontainer angekommen, der als Redaktionsbüro dient. Hier bereiten sie Interviews mit Expertinnen und Experten vor, übersetzen Zitate, nehmen ihre Beiträge auf und bearbeiten sie.
Mit ihrer Arbeit definieren die Reporterinnen und Reporter von Sikika nicht nur Geschlechterrollen neu. Sie brechen auch die Kommunikationshierarchien im Lager auf. Nicht die Geflüchteten werden von Organisationen oder Lagerbehörden informiert, sondern sie selbst informieren ihre Gemeinschaften. Alle zwei Wochen senden sie ihr einstündiges Programm an fast 300 Gruppen von Zuhörenden in ganz Kakuma und der benachbarten Siedlung Kalobeyei. Nach jeder Sendung erhalten die Reporterinnen und Reporter Feedback von ihrem Publikum: Was können sie besser machen? Welche Themen sollten in den nächsten Sendungen behandelt werden? Auf diese Weise sind die Reporterinnen und Reporter immer auf dem neuesten Stand, was den Informationsbedarf ihrer Hörerschaft angeht.
Die humanitären Organisationen müssen sich noch an die Fragen von Geflüchteten gewöhnen. „Es ist immer schwierig, Interviews mit Expertinnen und Experten der Organisationen zu bekommen“, sagt Taphine Otieno, der dafür sorgen muss, dass jede Sendung rechtzeitig produziert wird. „Die wenigsten von ihnen können einfach mit den Reporterinnen und Reportern sprechen. Um eine Genehmigung zu erhalten, muss eine solche Anfrage von Kakuma nach Nairobi und im schlimmsten Fall zu einem internationalen Hauptsitz gehen. Und dann den ganzen Weg zurück - es kann mehrere Wochen dauern, bis wir ein Interview bekommen.“
In Sikika, was auf Kisuaheli so viel wie „gehört werden“ bedeutet, berichten die Geflüchteten oft über grundlegende menschliche Bedürfnisse wie Gesundheit, Nahrung, Wasser und Bildung. Das Programm befasst sich aber auch mit Sport, Kultur und der Verständigung zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen. In Kakuma leben Menschen aus Südsudan, dem Kongo, Äthiopien, Somalia und die einheimischen Turkana als Nachbarn nebeneinander. Menschen, die vor Konflikten in ihrem Heimatland geflohen sind, leben nun oft Tür an Tür mit Angehörigen der gegnerischen Gruppe. Spannungen im Lager sind daher keine Seltenheit.
Die Vielfalt des Lagers ist sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche. Unter den Mitgliedern des Sikika-Teams sind alle wichtigen ethnischen Gruppen vertreten, die unterschiedliche Blickwinkel einnehmen, um ein genaues Bild von Kakuma und seinen Bewohnerinnen und Bewohnern zu zeichnen. „Es gibt so viele Geschichten zu erzählen. Kakuma ist ein Universum voller Geschichten. Eines Tages werde ich ein Buch mit diesem Titel schreiben“, sagt Sudi und lächelt zuversichtlich.
Sudi Omar Noor (links) berichtet mit ihren Reporterkollegen Abdirahman Ahmed (Mitte) und David Omot (rechts) von Sikika
Das Sikika-Team unterstütze und ermutige sich gegenseitig, sagt Sudi. Gemeinsam überwinden sie die täglichen Hürden - sei es der Transport, die Verfügbarkeit von Interviewpartnerinnen und -partnern oder die Feindseligkeit gegenüber den weiblichen Reporterinnen. „Ich möchte ein Vorbild für die Mädchen hier im Camp sein. Es gibt so viele großartige, starke Menschen hier in Kakuma. Wir müssen unseren Gemeinschaften von ihnen erzählen, damit sie etwas lernen. Deshalb höre ich nicht auf, als Reporterin zu arbeiten.“
Zu Hause angekommen, muss Sudi noch das Abendessen vorbereiten. Vor allem die ältere Generation halte gerne an den alten Lebensgewohnheiten fest, erklärt sie. Ihre Tante unterstütze Sudi jedoch in ihren Entscheidungen. Jüngere Menschen seien viel verständnisvoller: „Wenn mein Cousin früh von der Arbeit nach Hause kommt, hilft er mir manchmal beim Kochen. Aber dann müssen wir die Tür schließen, damit die anderen Männer ihn nicht sehen.“ Sudi kichert, während sie mit der Zubereitung des Abendessens beginnt.
„Sikika“ bietet verlässliche lokale Informationen für rund 283.000 Menschen, die in und um das Flüchtlingslager Kakuma leben. FilmAid Kenya und die DW Akademie haben die Plattform im Jahr 2020 gegründet, um die Kommunikation zwischen Flüchtlingen, der Aufnahmegesellschaft und humanitären Organisationen zu verbessern, die grundlegende Dienstleistungen wie Nahrungsmittelhilfe, Gesundheitsversorgung und Bildung anbieten. Sie wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unterstützt.
Dieser Artikel wurde aktualisiert.