Das Thema Wirtschaft gilt als trocken, kompliziert und theoretisch. In Bolivien bringt der kolumbianische Journalist Alberto Martínez angehenden Journalisten bei, Wirtschaftsthemen spannend zu erzählen.
Eine Woche lang teilte Alberto Martínez, Journalist und Dozent an der Universidad del Norte in Kolumbien, sein Wissen mit 16 Journalistinnen und Journalisten in Bolivien – und forderte sie dazu auf, Wirtschaftsthemen neu zu denken.
In Bolivien bietet die Fundación para el Periodismo (FPP) mit Unterstützung der DW Akademie und der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) ein duales Ausbildungsprogramm für Journalisten an. Das praxisorientierte Training, Teil des GIZ Projekt ProPeriodismo II, besteht zu 40 Prozent aus Theorie und zu 60 Prozent aus journalistischem Alltag in einem Medienunternehmen. Ein wichtiger Bestandteil ist das Seminar zum Thema Wirtschaftsjournalismus: Eine Woche lang teilte Alberto Martínez, Journalist und Dozent an der Universidad del Norte in Kolumbien, sein Wissen mit 16 Journalistinnen und Journalisten in Bolivien – und forderte sie dazu auf, Wirtschaftsthemen neu zu denken.
Sie vermitteln das Thema Wirtschaft an den journalistischen Nachwuchs. Welche Eigenschaften braucht ein guter Wirtschaftsjournalist?
Zuerst muss man natürlich die Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft kennen, die wir auch hier im Unterricht vermitteln. Und man darf keine Berührungsängste vor dem Thema haben. Dazu gehört es zu verstehen, dass die Wirtschaft unser Leben strukturiert. Wir sind heute Morgen aufgestanden, haben gebadet und uns angezogen, gefrühstückt und sind zur Arbeit gefahren. Jede Entscheidung, die wir heute getroffen haben, hat auch eine wirtschaftliche Komponente. Wenn ich Wirtschaft als integralen Teil meiner eigenen Entscheidungen und täglichen Handlungen verstehe, dann muss ich zwangsläufig mehr darüber lernen, und ich verliere auch die Angst vor dem Thema.
Ziel Ihres Seminars ist es, Wirtschaftsjournalismus "sexy" zu machen. Wie geht das?
Der Begriff sexy bedeutet für mich attraktiv, interessant, unterhaltsam, intelligent, sensibel und gleichzeitig dialogfähig. Wir wollen, dass die Kursteilnehmer Geschichten mit diesen Eigenschaften schreiben, damit sich mehr Leserinnen und Leser mit ihren Texten, Geschichten und Berichten auseinandersetzen. Wir wollen die Öffentlichkeit mit spannenden Geschichten „verführen“, damit sie nicht länger denkt, dass Wirtschaft eine graue Angelegenheit ist, die sie selbst nicht betrifft.
Stimmt der Mythos, dass Journalisten oft nicht mit Zahlen umgehen können?
Dazu gibt es viele Theorien. Der Autor John Allen Paulos sagt, dass Journalisten „anumerisch“ seien, also von Natur aus nicht gut mit Zahlen arbeiten könnten. Ich glaube, dass viele Menschen Probleme mit Zahlen haben. Ingenieure und Mathematiker arbeiten tagtäglich damit, aber die meisten Menschen kommen in ihrem Alltag ganz ohne aus.
Was wir in unserem Seminar versuchen, ist den Zahlen einen neuen Wert zu geben. Wir zeigen, dass man mit ihnen gute Geschichten erzählen kann. Gleichzeitig wollen wir klar machen, dass sich das Thema Wirtschaft nicht nur in Zahlen ausdrücken lässt.
War es für die Teilnehmer des Seminars schwierig, Wirtschaftsthemen mit Geschichten aus dem Alltag zusammen zu bringen?
Überhaupt nicht, sie haben das großartig gemacht. Heute hat mir eine Studentin ihre Geschichte gezeigt: Sie wollte über regelmäßige Geldtransfers zwischen Bolivianern im Ausland und ihren Familien berichten. Dabei hat sie herausgefunden, dass die bolivianischen Bürgerinnen und Bürger im Ausland das meiste Geld ins Land bringen. Das ist eine unheimlich spannende Geschichte.
Ein anderer Teilnehmer war auf dem Markt und hat über die Situation der Gemüsebauern geschrieben. Klimawandel, Spekulationen an der Börse: Das sind ganz viele unterschiedliche Faktoren, die alle die Ernte und damit auch die Einnahmen beeinflussen. Wichtig ist, dass die Geschichten einen spannenden Einstieg haben und den Leser sofort hineinziehen.
Wie beurteilen Sie die Situation des Wirtschaftsjournalismus in der Welt und in Bolivien?
Ich glaube, dass die Menschen im Allgemeinen verstanden haben, welchen hohen Stellenwert die Wirtschaft hat. Es gibt keinen sozialen Umstand, keine politische Entscheidung, die ohne eine wirtschaftliche Komponente auskommt. Und ich glaube, dass sich Journalisten und Bürger über das Thema Wirtschaft näher kommen.
Die Situation ist folgende: Wenn ich mich vor wirtschaftlichen Entscheidungen fürchte, dann werden diese Entscheidungen eben von anderen getroffen. Sagen wir, es gibt 300 Unternehmer in der Welt, die 80 Prozent des gesamten Vermögens besitzen. Sprechen wir dann mit diesen 300 Unternehmern oder mit den rund sieben Milliarden Menschen auf der Erde, die sich mit solchen Fragen auseinandersetzen und mit den Konsequenzen leben müssen? Das ist die Herausforderung. In Bolivien beginnen wir damit, den Wirtschaftsjournalismus von einem technischen Fachjournalismus wegzuführen. Stattdessen müssen wir die Informationen für die Mehrheit der Leute aufbereiten, leicht verständlich und in einfacher Sprache.
Wie bewerten Sie den Fortschritt der dualen Journalistenausbildung und das Programm zum Wirtschaftsjournalismus?
Bolivien ist das einzige Land in Lateinamerika mit einer dualen Journalistenausbildung. Das Modell beantwortet eine ganz zentrale Frage, die wir Journalisten uns schon immer gestellt haben: Warum gibt es eine Trennung von Medien und Wissenschaft? Indem wir diese Frage beantworten, sind wir einen bedeutenden Schritt weiter. Denn Journalisten können jetzt das theoretische Wissen direkt in der Praxis anwenden. Das macht diese Art der Ausbildung besonders wertvoll.