„Wir fühlen uns alleingelassen“ - Desinformation und Gewalt in Georgien | Europa/Zentralasien | DW | 12.08.2021
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Europa/Zentralasien

„Wir fühlen uns alleingelassen“ - Desinformation und Gewalt in Georgien

Bei Protesten in Tiflis wurden Journalisten kürzlich von einem rechten Mob angegriffen. Für Tamar Kintsurashvili sind die Ausschreitungen eine Folge von Desinformationskampagnen, gegen die sie und ihr Team vorgehen.

Georgien | Gewalt gegen LGBTQ | Proteste in Tiflis

"Wer ist der Nächste?" Hunderte Menschen versammelten sich nach den Ausschreitungen vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis und gedachten der Opfer

Tamar Kintsurashvili ist Geschäftsführerin der georgischen Media Development Foundation (MDF) und Chefredakteurin des Online-Portals “Myth Detector”, das Falschnachrichten entlarvt und kritisches Denken fördert. Sie ist Professorin für Medienethik und Recherchemethoden. Im Interview spricht sie mit uns über die Proteste in Georgien und wie sie gegen Desinformationskampagnen vorgeht.

Frau Kintsurashvili, bei dem Vorfall im Juli ging es um eine Pride-Parade, die nachträglich abgesagt wurde. Dreiundfünfzig Journalistinnen und Journalisten wurden verletzt, einige von ihnen sehr schwer. Ein Kameramann, Alexander Lashkarava, wurde zunächst im Krankenhaus behandelt und später, nach seiner Entlassung, unter ungeklärten Umständen tot in seiner Wohnung aufgefunden. Woher kommt all dieser Hass?

Tamar Kintsurashvili | Executive Director | Media Development Foundation

Tamar Kintsurashvili

Zunächst ist es wichtig zu sagen, dass es hier nicht in erster Linie um LGBTQ-Rechte geht. Unserer Ansicht nach ist dies eher ein Ausdruck, oder vielmehr das Ergebnis antiwestlicher und antiliberaler Narrative in Georgien, die von verschiedenen ultrakonservativen, klerikalen oder nationalistischen Gruppen im Internet und bestimmten Medien verbreitet werden. Dazu gehört auch der gezielte Einsatz von Desinformation, um Emotionen zu schüren, die schließlich zu solchen Gewaltausbrüchen führen.

In diesem Fall richteten sich die Angriffe weniger gegen Pro-LGBTQ-Demonstrierende als vielmehr gegen Journalistinnen und Journalisten, die oft als Vertreter anti-georgischer Werte dargestellt werden. Die Polizei war bei einigen dieser Vorfälle vor Ort, griff aber nicht ein. Wenn staatliche Institutionen ihre Bürgerinnen und Bürger nicht vor gewalttätigen extremistischen Gruppen schützen und Organisatoren des Pogroms, die offen zu Gewalt aufrufen, unantastbar erscheinen, dann ist die Botschaft: Es gibt keinen Schutz für Minderheiten, und es gibt keinen für Journalistinnen und Journalisten. Wir fühlen uns zunehmend alleingelassen.

Um welche falschen oder irreführenden Informationen geht es hier, und wer verbreitet sie?

Ein Beispiel ist der Diskurs um den Tod von Alexander Lashkarava selbst. Obwohl die Ermittlungen offiziell noch laufen, gab das georgische Innenministerium einige Tage nach seinem Tod eine Erklärung ab und nannte mögliche Ursachen – darunter auch eine Überdosis. Noch vor dem Statement des Ministeriums tauchten in den sozialen Netzwerken persönliche Daten von Lashkarava auf.

Der staatliche Inspektionsdienst leitete daraufhin eine Untersuchung ein, um herauszufinden, wer diese vertraulichen Informationen weitergegeben hat. Lashkaravas Tod wurde infolge dessen von verschiedenen Akteuren mit einer Opioid-Überdosis in Verbindung gebracht – auch von Mitgliedern der gewalttätigen Gruppen, die ihn angegriffen hatten. Regierungsfreundliche Medien und verschiedene Facebook-Accounts, die sich als unparteiische Informationsplattformen ausgaben, griffen dies auf. Einer dieser Accounts wurde noch am Tag von Lashkaravas Tod eingerichtet. Wir haben den Fall untersucht und auf unserer Myth Detector-Plattform darüber berichtet.

Warum geht die Regierung Ihrer Meinung nach nicht entschiedener gegen diese Gruppen vor?

Georgien | Gewalt gegen LGBTQ | Proteste in Tiflis

Kollegen von Alexander Lashkarava nehmen mit einer Schweigeminute Abschied vom getöteten Journalisten

Georgien ist ein sehr konservatives Land, und die orthodoxe Kirche ist extrem einflussreich. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum Premierminister Irakly Garibashvili vor den Anschlägen erklärte, es sei "unvernünftig", die Demonstration abzuhalten, da sie zu "zivilen Auseinandersetzungen" führen könnte. Später erklärte er, dass 95 Prozent der Bevölkerung gegen die Pride-Parade seien, und behauptete, die Organisatoren steckten mit der Opposition unter einer Decke.

Wie genau gehen Sie angesichts dieser komplexen Lage bei der Überprüfung von Fakten vor?

Wir überprüfen Fakten auf Grundlage offener Quellen. In einem ersten Schritt heißt das, herauszufinden, wer der Absender der jeweiligen Nachricht ist, und dann eine Diskursanalyse zu machen. Indem wir zum Beispiel Informationen über den Besitzer eines Social Media Accounts sammeln und die verwendeten Informationsquellen offen legen, können wir die Aussagen in einen Kontext setzen und seine beziehungsweise ihre Absichten besser verstehen.

Derzeit gibt es viele Fake-Accounts, insbesondere auf Facebook, die vorgeben, objektive Nachrichtenanbieter zu sein. Wir konnten eine Reihe dieser Accounts entlarven. Als so genannter Third-Party-Partner von Facebook recherchieren und kennzeichnen wir Falschmeldungen und bieten alternative Informationen an. Da dies eine hohe Sichtbarkeit hat, und Facebook bisher nicht reguliert wurde, denken einige, dass wir für die Schließung von Seiten verantwortlich sind oder ihnen anderweitig Schwierigkeiten auf Facebook bereiten, was nicht der Fall ist. Wir prüfen nur die Fakten und kennzeichnen etwaige Falschmeldungen. Es gibt aber viel Unsicherheit und einige Missverständnisse, die zu Hassrede und Angriffen gegen uns führen.

DW Akademie | Facebook Banner Screenshot | Myth Detector Georgia

Beispiel für die Kennzeichnung einer Falschinformation auf Facebook. Nutzerinnen und Nutzer gelangen über die Links auf eine Erklärung und den dazugehörigen Artikel auf der Myth Detector-Plattform. Der Screenshot zeigt eine Meldung, die behauptet, ukrainische Polizisten hätten sich geweigert, eine Pride-Parade zu schützen, was nicht der Wahrheit entsprach.

 

Wie sehen Sie die Chancen, das Problem der Desinformation in Georgien in den Griff zu bekommen?

Kurzfristig wird sich die Situation wahrscheinlich verschärfen, besonders für Lokalmedien. Im Oktober finden in Georgien Kommunalwahlen statt. Wir gehen davon aus, dass es in diesem Zusammenhang jede Menge Desinformation geben wird.

Nichtregierungsorganisationen, darunter auch Faktenprüfer wie wir, werden sehr wahrscheinlich wieder als anti-georgische Akteure oder ausländische Spione dargestellt. Unsere größte Sorge ist, dass wir irgendwann Zustände wie in Russland haben, wo Organisationen, die sich ganz oder teilweise aus dem Ausland finanzieren, per Gesetz gezwungen sind, sich als "ausländische Agenten" zu registrieren. Mittel- und langfristig glaube ich jedoch, dass wir viel gegen Desinformation tun können. Georgien hat eine starke Zivilgesellschaft, und jede Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen, einschließlich der Gesetze zur Meinungs- und Informationsfreiheit, wäre ein Schritt zurück in unsere autoritäre Vergangenheit. Wir werden uns daher wehren und unsere Freiheit sowie unsere Gesetze verteidigen, die unser Land in dieser Region so einzigartig machen.

Das Interview wurde aus dem Englischen übersetzt.

 

"Myth Detector" wird mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanziert.

 

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