28 Menschen verschwinden durchschnittlich pro Tag in Mexiko – gewaltsam und unfreiwillig. Das Land hat die höchste Zahl an gewaltsam verschwundenen Personen in Lateinamerika. Nach Angaben des Ausschusses der Vereinten Nationen für das Verschwindenlassen von Personen (CED) gelten mehr als 100.000 Menschen als vermisst. In den meisten dieser Fälle bleiben die Familien gebrochen und isoliert zurück und werden sowohl von der Politik als auch von den Mainstream-Medien ignoriert. Die Gesellschaft verdrängt die menschliche Tragödie und stigmatisiert die Opfer, da der Glaube weit verbreitet ist, dass es eine Verbindung zum organisierten Verbrechen geben muss.
Die Familien der Verschwundenen drücken ihre Gefühle anhand von verschiedenen Kunstformen aus, zum Beispiel Stickerei.
Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Mit Empathie, Kunst und Dialog unterstützen DW Akademie und die Organisation Técnicas Rudas die Familien der Opfer. Ziel ist es, sie von der allgemeinen Stigmatisierung zu befreien und zu zeigen, dass das Schicksal des gewaltsamen Verschwindens jede und jeden treffen kann. Den Opfern ein Gesicht zu geben und den Schmerz der Familien zu vermitteln, steht im Einklang mit den Empfehlungen der UNO zur Bekämpfung dieses Verbrechens gegen die Menschlichkeit: die Gesellschaft darüber zu informieren und aufzuklären.
Das ProjektNarrativas y Memorias de la Desaparición en México (Spanisch für “Erzählungen und Erinnerungen an das Verschwindenlassen in Mexiko”) bringt seit Anfang 2020 Kunst- und Medienschaffende sowie Akademikerinnen und Akademiker mit Angehörigen von Opfern zusammen, um sich gemeinsam und künstlerisch mit dem Thema zu beschäftigen.
Mehr als nur Worte
Die Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit sind vielfältig: verschiedene öffentliche Veranstaltungen zum Thema, Theater, Illustrationen und Handarbeitskunst wie Stickerei ermöglichen es, Unsicherheit und Trauer, aber auch Hoffnung auszudrücken.
Dafür ist auch Musik ein probates Mittel: Gemeinsam mit dem Künstler Arturo Muñoz Rodríguez, el Carcará, schuf das Kollektiv “Mütter auf der Suche” aus Coatzacoalcos im mexikanischen Bundesstaat Veracruz das Lied "La Búsqueda" (Die Suche). Der Text des Liedes, das im Rahmen eines Workshops entstanden ist, beschreibt den emotionalen und physischen Weg, den ein Tag der Suche für die Mütter der Opfer des gewaltsamen Verschwindens bedeutet.
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Mit innovativen Formaten aus Kunst und Journalismus das Schweigen über gewaltsames Verschwindens brechen
Sensibilisierung "to-go"
Das Projekt "Narratives and Memories of Disappearance in Mexico" von Técnicas Rudas und der DW Akademie reist mit einer Ausstellung durch das Land, in der künstlerische Arbeiten präsentiert und Workshops und Vorträge angeboten werden. Die Porträts zeigen Menschen, die anhand von Fotos ihre Angehörigen suchen. Die Opfer sind nicht nur die Verschwundenen, sondern alle, die im Ungewissen bleiben.
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Poesie gegen das Vergessen
María del Pilar Ramos liest ihr Gedicht im Zimmer ihres verschwundenen Sohnes Ángel Jaret. Im Rahmen der Técnicas Rudas-Workshops leitete und unterstützte die Dichterin Judith Santoprieto sie und sieben weitere Frauen dabei, ihre Geschichten und Erfahrungen bei der Suche nach vermissten Familienmitgliedern in Form von Erzählungen und Gedichten zu erzählen.
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Ohne viele Worte: Zeichnen, was oft unaussprechlich ist
Mitgefühl ist das, was Menschen zusammenbringt – und was den Angehörigen von Verschwundenen oft verwehrt bleibt. Künstler aus verschiedenen Teilen Mexikos schufen acht Plakate, auf denen sie versuchen, das Leid auszudrücken, wofür nur schwer Worte zu finden sind. Die Posterwand war Kulisse eines Konzerts von Carcará (Mitte), einem der Musiker, die mit Técnicas Rudas zusammenarbeiten.
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Gemeinsam gegen Stigmatisierung
Sensibilisieren, Aufklären, Druck auf die verantwortlichen Behörden ausüben: ohne die Zivilgesellschaft geht das nicht. So ist die kollektive Ausstellung Rodante de Técnicas Rudas auch das Ergebnis eines öffentlichen Aufrufs, bei dem alle, die mitmachen wollten, eingeladen waren. Die Poster machen das gewaltsame Verschwinden auf vielfältige Weise sichtbar.
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Eine Suche mit starken Texten und kraftvoller Stimme
Mare Advertencia Lirika, mexikanische Rapperin, Sozialaktivistin und Feministin, trägt mit ihren Liedern, die sich mit den physischen und emotionalen Auswirkungen des Verlusts befassen und Gerechtigkeit fordern, zum Projekt "Narratives and Memories of Disappearance in Mexico" bei. "Gesucht!" ertönt ihre kraftvolle Stimme durchs Mikrofon.
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Theater versucht zu heilen
Das von der mexikanischen Schauspielerin und Dramatikerin Verónica Maldonado geschriebene Stück ist eine Metapher, um den jüngsten Familienmitgliedern die Abwesenheit der Verschwundenen zu erklären: Sie gehen nicht aus freien Stücken, und es ist nicht bekannt, ob sie noch leben. Um das Stück zu schreiben, lebte Maldonado bei den Familien und begleitete sie bei der Suche nach ihren Angehörigen.
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Gemeinsame Handarbeit lindert den Schmerz
Millionen von Frauen auf der ganzen Welt gehen dem Sticken nach. Die Handarbeit wird zu einem Instrument, um das gewaltsame Verschwinden sichtbar zu machen und anzuprangern. Die kollektiven Stickereien sind eine Ausdrucksform, die allen Menschen zugänglich ist, die auf der Suche nach ihren Angehörigen sind. Sie dienen als gemeinsame Übung, um den Schmerz zu lindern.
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Puppen verkörpern die tiefsten Gefühle
Den Schmerz durch die Gestaltung einer individuellen Puppe kanalisieren: Das ermöglicht Schauspielerin und Textilkünstlerin Sandra Reyes Menschen wie Rosalba Rojas (im Bild), die nach ihren Angehörigen suchen. Die Puppen stellen ihr eigenes Bild oder das der vermissten Person dar, dem sie alles hinzufügen können: von persönlichen Gegenständen bis hin zu Botschaften der Hoffnung und Liebe.
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Kunst als Ruf nach Aufklärung
Bruno, der Bruder des mexikanischen Performancekünstlers und Anthropologen Lukas Avendaño (rechts), verschwand im Jahr 2018 und wurde 2020 tot aufgefunden. Durch künstlerische Aktionen hat Lukas die Untätigkeit der Behörden angeprangert und fordert von den öffentlichen Bediensteten ein Ende der Straflosigkeit dieser Verbrechen. Er unterstützt auch suchende Familien.
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Von der Marginalisierung zur breiten Anerkennung
Diese vielfältigen künstlerischen Ausdrucksformen sind in einem Buch zum Projekt zusammengefasst, das die Opfer und ihre Familien in den Mittelpunkt stellt. Die neuen Darstellungen von Schmerz und Leid, aber auch von Hoffnung und Mut auf der Grundlage von Empathie und Solidarität ersetzen den stigmatisierenden Diskurs durch die Suche nach Gerechtigkeit.
Die Familien der Verschwundenen haben Podcasts, Lieder und Gedichte produziert, die die Hartnäckigkeit ihrer Suche festhalten. Eindrucksvolle Plakatausstellungen klären über die Situation in Mexiko auf und fordern Gerechtigkeit.
Auch die Ergebnisse einer Untersuchung über den Zusammenhang von Pandemie und dem gewaltsamen Verschwindenlassen werden sowohl künstlerisch als auch journalistisch dargestellt. Das ProjektDesaparecer en Pandemia (“Verschwinden in der Pandemie”) vereint mexikanische Aktivistinnen und Aktivisten, Forscherinnen und Forscher, Journalistinnen und Journalisten, sowie Frauen und Männer aus dem Web-Design und der bildenden Kunst: Vier innovativ erzählte Geschichten verdeutlichen, dass es beim gewaltsamen Verschwindenlassen um mehr geht als um Einzelschicksale und verdeutlichen gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge wie das Versagen der Rechtstaats im Kampf gegen das organisierte Verbrechen.
Das Schweigen brechen
Während ihre Suche weitergeht, begleiten nun neue Erzählungen und Ausdrucksformen die unermüdlichen Familien. Es ist der Versuch, ihren Schmerz zu lindern und ihn mit der Gesellschaft zu teilen. Die Hoffnung bleibt – bis ihre Lieben gefunden werden.
Die DW Akademie arbeitet seit Anfang 2020 mit Técnicas Rudas in Mexiko zusammen. Die unabhängige lokale Organisation unterstützt die Opfer des Verschwindenlassens in Mexiko durch strategische Forschung und die Bildung von Partnerschaften. Das Ziel der DW Akademie ist es, Menschenrechtsthemen in der Öffentlichkeit sichtbarer zu machen. Im Jahr 2011 erklärten die Vereinten Nationen den 30. August zum jährlichen “Internationalen Tag der Opfer des Verschwindenlassens”.
Das Projekt “Narrativas y Memorias de la Desaparición en México” wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gefördert.