Ukraine: "Demokratie ist kein Geschenk" | Europa/Zentralasien | DW | 14.09.2016
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Europa/Zentralasien

Ukraine: "Demokratie ist kein Geschenk"

Woran krankt die Demokratie in der Ukraine? Warum kommen die Medien ihrem demokratischen Auftrag nicht nach? Eine Einschätzung von der ukrainischen Abgeordneten Svitlana Zalischchuk und dem Politologen Anatoliy Amelin.

Kombobild Svitlana Zalischchuk und Anatoliy Amelin

Links der ukrainische Politologe Anatoliy Amelin, rechts die ukrainische Abgeordnete Svitlana Zalischchuk

Nach der Orangen Revolution und dem Euro-Majdan schien der Weg der Ukraine hin zu Demokratie und europäischer Integration endlich frei zu sein. Aber die anfängliche Euphorie ist der Ernüchterung gewichen: Seit Jahren steht die ukrainische Regierung in der Kritik, die Korruptionsbekämpfung und Durchsetzung von Reformen zu verschleppen. Woran krankt die Demokratie in der Ukraine denn nun tatsächlich? Die DW Akademie wollte es genauer wissen und hat zwei sehr unterschiedliche Gesprächspartner befragt.
Svitlana Zalischchuk stammt aus Kiew, arbeitete zunächst als Journalistin und Leiterin der Anti-Korruptions-NGO "Centre.UA". Seit 2016 nimmt die bekannte Janukowitsch-Kritikerin eine der Führungspositionen bei der jungen Partei "Demallianz" (Demokratische Allianz) im ukrainischen Parlament ein. Der aus Donzek im Osten der Ukraine stammende Anatoliy Amelin bekleidete unter Präsident Janukowitsch hohe Positionen, u.a. als Leiter der Staatskommission für Wertpapiere und den Aktienmarkt. Der Wirtschafts- und Politikexperte nahm selbst am Majdan teil. Den Staatsdienst hat er mittlerweile verlassen, engagiert sich aber bis heute als Politologe und zivilgesellschaftlicher Aktivist.

Winston Churchill bezeichnete 1947 die Demokratie als schlechteste aller Regierungsformen - abgesehen von allen anderen, die bisweilen ausprobiert worden seien. Was bedeutet Demokratie denn für Sie?
Svitlana Zalischchuk: Ich habe während unserer letzten Revolutionen für mich verstanden, was Demokratie definitiv nicht ist: Sie ist kein Geschenk, das die Politiker dem Volk einfach überreichen. Für mich bedeutet Demokratie eine gemeinsame Anstrengung der gesamten Zivilbevölkerung. Nur so, und in jahrelanger Arbeit, können starke staatliche Strukturen aufgebaut werden, die dann wiederum Pressefreiheit, freie Wahlen und andere Menschenrechte garantieren.
Anatoliy Amelin: Für mich bedeutet Demokratie, die Entwicklung des Landes und der Gesellschaft aktiv mit zu beeinflussen, eine Strategie aufzubauen und dafür Verantwortung zu übernehmen. Diese Kombination von Verantwortung und Rechten ist kompliziert – in unserem Land verwechseln viele Menschen „Demokratie“ mit „Ochlokratie“ [Herrschaft des Pöbels, Anm. d. Red.]. Demokratie im klassischen Sinne besitzen wir in der Ukraine vielleicht noch nicht, aber wir sind auf dem richtigen Weg.
Demonstraten Gedenken der Maidan-Aktivisten im Feburar 2016

Demonstranten gedenken den Maidan-Aktivisten im Feburar 2016

Zweieinhalb Jahre nach dem Majdan kämpfen die Ukraine und ihre Gesellschaft aber noch immer mit der Vergangenheit. Glauben Sie, dass sich das Land tatsächlich in Richtung einer Demokratie, wie Sie sie gerade beschrieben haben, bewegt?

Svitlana Zalischchuk: Ich denke, die Ukraine hat sich fest für einen Kurs entschieden – und zwar für die europäische Integration und Demokratisierung. Dafür gibt es auch klare Indikatoren, z.B. die freien Wahlen, die schon mehrfach erfolgreich durchgeführt wurden. Es gibt bestimmt noch einige Probleme. Aber wir haben uns von einer vertikalen zu einer horizontalen Gesellschaft entwickelt, in der die Bürger kritisieren, kontrollieren und wählen dürfen. Und wir sehen an den letzten Korruptionsskandalen, dass Lügen, Diebstahl und Korruption in der Ukraine nicht länger ungestraft bleiben. Auch die Redefreiheit und Parteienvielfalt steigen – es bildet sich eine ganz neue politische Kultur im Land.
Mal provokativ gefragt: Autoritäre Regierungsformen können Reformen oftmals einfacher und schneller durchführen. Wäre es nicht eine Option für die Ukraine, vorerst diesen Weg einzuschlagen und nach erfolgten Reformen zur Demokratie zurückzukehren?
Svitlana Zalischchuk: Definitiv nicht. Die Ukraine befindet sich seit Jahren auf ihrem Weg hin zur Demokratie, eine Alternative dazu ist undenkbar. Wir sind ein europäischer Staat, besitzen demokratische Traditionen, und empfinden uns kulturell, historisch wie auch politisch als Teil des europäischen Demokratieprozesses. Ich glaube auch nicht, dass Diktaturen nachhaltige Reformen hervorbringen. In der Tat können autoritäre Regime schnelle Entscheidungen fällen und sie effektiv umsetzen...
...es gibt dafür ja erfolgreiche Beispiele wie Singapur...
Svitlana Zalischchuk: ...ja, aber die müssen im Kontext ihrer lokalen Mentalität sowie der historischen und geopolitischen Rahmenbedingungen gesehen werden.
Anatoliy Amelin: Das denke ich auch. Eine autoritäre Regierungsform ist zudem eng mit der Persönlichkeit ihres jeweiligen Machthabers verbunden. Gäbe es eine solche Führungspersönlichkeit in der Ukraine, könnten wir im besten Fall ein europäisches Singapur schaffen. Im schlimmsten Fall ein europäisches Nordkorea.
MaidanDemonstrationen auf dem Maidan im Februar 2016.

Demonstrationen auf dem Maidan im Februar 2016.

Die letzten Bewertungen der Reformbestrebungen in der Ukraine sind mehr als kritisch. Besonders die Korruptionsbekämpfung: Transparency International etwa hat die Ukraine im Corruption Perception Index 2015 auf Platz 130 von insgesamt 168 eingestuft.

Svitlana Zalischchuk: Ich sehe die Situation der Ukraine nicht annähernd so schwarz-weiß. Es wurde in den letzten zweieinhalb Jahren doch viel erreicht! Dutzende progressiver Gesetze wurden verabschiedet und implementiert. Die neu geschaffenen Institutionen zur Korruptionsbekämpfung fangen bereits an, ihre Effektivität unter Beweis zu stellen
Auch die Pressefreiheit wurden als mangelhaft erklärt. Warum tut sich die Ukraine so schwer, Journalisten als Wächter der Demokratie aufzubauen und einzusetzen?
Anatoliy Amelin: In der Ukraine gibt es keine Tradition für einen wirtschaftlich funktionierenden Medienmarkt. Die finanziellen Ressourcen der Sender werden meist von ihren Eigentümern gestellt. Dafür müssen sie aber auch deren Interessen verfolgen und als Schutzschild dienen.
Svitlana Zalischchuk: Es stimmt zwar, dass die privaten Fernsehsender in der Ukraine einzelnen Oligarchen gehören. Aber auch im Westen gibt es ja nicht nur öffentlich-rechtliche Sender. Die privaten Fernsehanstalten gehören dort ebenfalls reichen Einzelpersonen...
...die aber ihre Medien nicht ausnutzen dürfen, um politischen Einfluss auszuüben...
Svitlana Zalischchuk: ...das wollte ich auch gerade sagen: Das Problem ist nicht, dass die Sender reichen Privatpersonen gehören, sondern dass sie politisch missbraucht werden. Ich möchte aber nochmals unterstreichen, dass es in den letzten Jahren deutliche Veränderungen in der Ukraine gegeben hat – auch in der Medienlandschaft. Die völlig einseitige Informationspolitik, wie sie früher von der Präsidialadministration betrieben wurde, gibt es nicht mehr. Wir beobachten eine zunehmende Konkurrenz zwischen den Medien und das Aufkommen einer neuen Generation junger Journalisten, die frei und unabhängig arbeiten wollen.

Aktivisten blockieren den Eingang des TV-Senders Inter, dem sie eine pro-russische Position vorwerfen.

Aktivisten blockieren im September 2016 den Eingang des TV-Senders Inter, dem sie eine pro-russische Position vorwerfen

Würden Sie sagen, dass die Ukrainer die Werte der Demokratie schon verinnerlicht haben – oder ist ihr Demokratieverständnis bislang eher oberflächlich?

Anatoliy Amelin: Wir hatten in den letzten 70 Jahren kaum Gelegenheit, uns mit demokratischen Werten auseinander zu setzten. Die Voraussetzungen dafür sind mit unserer Unabhängigkeit geschaffen worden, aber die jetzige politische Elite wie auch die Leiter der Schulen und Universitäten sind noch im sowjetischen System aufgewachsen. Unter diesen Bedingungen entwickelt sich echtes Demokratieverständnis nur sehr langsam. Das finde ich auch ganz normal. Moses hat sein Volk schließlich 40 Jahre lang durch die Wüste geführt; unsere Unabhängigkeit ist gerade mal eine Generation alt.
Svitlana Zalischchuk: Ich finde es ungerecht zu behaupten, dass die Ukrainer nur ein oberflächliches Demokratieverständnis besitzen. Die Ukrainer haben in den letzten Jahren mehrmals bewiesen, dass sie für ihre Werte auf die Straße gehen und sogar dafür sterben. Das kann man wohl kaum als oberflächlich bezeichnen. Aber es geht hier eben um eine Transformation der ganzen Gesellschaft. So etwas läuft nie schnell und reibungslos ab. Es wird also vielleicht noch etwas dauern, bis wir die demokratischen Werte wirklich verinnerlicht haben.
Welche Schritte müssten Ihrer Meinung nach eingeleitet werden, um die Demokratisierung der Ukraine voranzutreiben und unumkehrbar zu machen?
Anatoliy Amelin: Wir brauchen frischen Wind bei den Behörden und in der Politik. Die jüngere Generation ist weniger konservativ und könnte den Wandel der Ukraine beflügeln.
Svitlana Zalischchuk: Ganz oben auf der Agenda steht für mich die Reform des Wahlrechts. Durch Abschaffung der Mehrheitswahl und Einführung offener Wahllisten könnten wir die interne Konkurrenz innerhalb der Parteien beleben. Und dann Wirtschaftsreformen: Eine wachsende Mittelschicht ist eine Grundbedingung für die Weiterentwicklung unserer Demokratie. Dafür brauchen wir Steuererleichterungen und neue Investitionen. Auch die Korruptionsbekämpfung muss dringend weiter vorangetrieben, und nicht noch gesetzlich blockiert werden. Dann wäre in der Ukraine fast alles in Ordnung (lacht).
Demonstrationen auf dem Maidan im Februar 2016.

Svitlana Zalischchuk und Anatoliy Amelin protestierten beide auf dem Maidan

Wir haben jetzt viel über den langen Weg der Ukraine hin zur Demokratie gesprochen. Wann wäre dieses Ziel denn Ihrer Meinung nach erreicht?

Anatoliy Amelin: Ich denke, wir haben dann Demokratie erreicht, wenn der ukrainische Staat die Interessen seiner Bürger vertritt – und nicht mehr umgekehrt.
Svitlana Zalischchuk: Ich bin überzeugt, dass Demokratisierung ein Prozess ist, und kein Punkt, den man erreichen kann. Ich beobachte, dass sich auch die westlichen Demokratien in den USA und Europa bei ihrer Entwicklung großen Herausforderungen gegenüber sehen. Nein, für mich ist die Demokratisierung der Ukraine kein Zielpunkt, für mich ist sie ein Weg.

DW Akademie: Vielen Dank an Sie beide für das Gespräch.

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