Zwei Jahre nach dem Exodus von Myanmar nach Bangladesch versuchen viele Rohingya, der Hoffnungslosigkeit im Flüchtlingslager zu entkommen. Manche brechen in kleinen Booten nach Malaysia auf und riskieren dabei ihr Leben.
DW-Akademie Mitarbeiterin Mafia Akter eröffnet die erste der Podiumsdiskussionen im Camp, in der es über die Gefahren der Flucht ging. Eine Aufzeichnung der Veranstaltung wurde später im Community Radio Naf ausgestrahlt.
Sharifa Khatun (20) lebt mit ihrer Mutter und ihrem dreijährigen Sohn in einer der unzähligen Bambushütten im Rohingya-Flüchtlingscamp in Bangladesch. Wie viele Hunderttausend muslimische Rohingya ist sie mit ihrer Familie vor zwei Jahren vor den Angriffen des Militärs aus ihrer Heimat Myanmar geflohen. Sharifas Ehemann war damals nicht dabei. Er hatte sich schon vorher auf den Weg nach Malaysia gemacht, wo er heute noch lebt.
Sharifa hat nicht nur den Umgang mit der Radio-Technik gelernt. Sie übte auch, auf Menschen zuzugehen, um sie zu interviewen.
Sharifa bleibt bis auf weiteres im Flüchtlingscamp im Distrikt Cox’s Bazar. Wie die meisten Rohingya will sie derzeit nicht nach Myanmar zurückkehren, weil sie dort weitere Repressalien fürchtet. Ins Ausland ausreisen kann sie nicht – die Rohingya sind staatenlos, offiziell dürfen sie nicht einmal das Camp in Bangladesch verlassen.
Aber die junge Mutter hat noch einen weiteren Grund: Seit Anfang 2018 arbeitet sie als Reporterin für das örtliche Community Radio Naf. Mit Unterstützung der DW Akademie produziert das Team aus Rohingya und Bangladeschern die Magazinsendung "Palonger Hota". Die Reporter berichten über Alltagsthemen aus dem Camp und den umliegenden Dörfern. Diese Aufgabe hat Sharifa eine neue Perspektive gegeben.
Flucht nach der Flucht
Doch im Camp macht sich immer mehr Hoffnungslosigkeit breit. Mittlerweile ist es zum größten Flüchtlingslager der Welt angewachsen: Etwa eine Million Menschen leben hier auf engstem Raum unter schwierigsten Bedingungen. Am 25. August jährt sich der Beginn der Massenflucht der Rohingya zum zweiten Mal – und für viele geht die Flucht weiter. In Gedanken oder auch in der Realität. Denn Schleuser nutzen ihre Verzweiflung aus.
Das Rohingya-Camp in Bangladesch nahe der Grenze zu Myanmar steht in der Monsun-Zeit völlig unter Wasser.
Auf Jobsuche oder auf dem Weg in die Zwangsprostitution
Menschenschmuggler locken die Flüchtlinge mit Lügengeschichten und unrealistischen Versprechungen unter anderem nach Malaysia, einem der Sehnsuchtsländer der Rohingya. Andere gelangen mit gefälschten Papieren nach Indien, Thailand, Indonesien, Nepal oder in die Golfstaaten. Es sind vor allem Männer und Frauen auf Arbeitsuche, die dann aber häufig in der Zwangsarbeit landen. Oder junge Frauen und Mädchen, die außerhalb des Camps verheiratet werden sollen, um die verarmten Rohingya-Großfamilien zu entlasten. Manche werden dann zur Prostitution gezwungen.
"Human Trafficking" wird die Schleuserei genannt, eine Art moderner Sklavenhandel. Darunter fällt Menschenschmuggel, auf den sich die Migranten von sich aus oder auf Druck ihrer Familien einlassen. Dazu zählt aber auch Menschenhandel, der geprägt ist von Gewalt, wie die Entführung potenzieller Kinderbräute.
Schon 2015 gab es in der Region eine dramatische Krise im Zusammenhang mit Menschenschmuggel: Tausende Bootsflüchtlinge, die meisten Rohingya, trieben fast drei Wochen lang hilflos auf dem offenen Meer, bevor sie von Thailand, Malaysia und Indonesien aufgenommen wurden. Zudem wurde bekannt, dass im thailändischen Dschungel Opfer von Menschenschmuggel in Lagern lebten. Ermittler stießen dort auch auf Massengräber. Die Regierungen von Bangladesch und Thailand gingen daraufhin hart gegen Schleuser und Menschenhändler vor. Der Trend zur illegalen Migration ebbte ab, scheint sich aber nun wieder zu verstärken.
Bangladeschische Behörden melden Medienberichten zufolge, im ersten Halbjahr 2019 seien rund 300 Rohingya bei der illegalen Ausreise gestoppt worden. Die Dunkelziffer liegt vermutlich sehr viel höher. Schätzungen zufolge sollen außerdem etwa 200.000 Rohingya aus dem Camp in Cox’s Bazar geflohen und in anderen Landesteilen Bangladeschs untergetaucht sein.
Information statt Stacheldraht
Während Politiker in Bangladesch darüber diskutieren, das Camp und seine Bewohnerinnen und Bewohner mit Stacheldraht zu umzäunen oder die Flüchtlinge auf einer Insel im Golf von Bengalen anzusiedeln, setzen Rohingya-Vertreter und die Hilfsorganisationen im Lager auf Information und Aufklärung über die Gefahren einer erneuten Flucht. Denn wer sich der Risiken bewusst ist, aber auch der Gefahr, Opfer von Zwangsarbeit, Prostitution, Zwangsheirat oder von Organhändlern zu werden, der kann sich und seine Familie schützen und verantwortungsvoll handeln.
Auch Sharifa hört immer wieder von Rohingya aus dem Camp, die sich auf der Suche nach einem besseren Leben wieder auf die Flucht begeben haben. Vor kurzem hat sie deshalb zum Thema Menschenschmuggel und illegale Auswanderung mit anderen Flüchtlingen eine Podiumsdiskussion im Rohingya-Camp organisiert. Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet und später im Community Radio Naf ausgestrahlt. Dieses neue Format wird bis Ende des Jahres zu anderen Themen fortgeführt.
Menschenschmuggel über das offene Meer
In der ersten Ausgabe dieser Reihe, die in Zusammenarbeit mit den UN-Organisationen UNHCR und IOM sowie anderen Hilfsorganisationen stattfand, ging es vor allem um die Gefahren, die eine erneute Flucht für die Menschen birgt. Viele werden von den Schmugglern nach Zahlung hoher Vermittlungssummen unterwegs sitzengelassen und gefährlichen Situationen ausgesetzt. Andere werden mit gefälschten Papieren auf Flughäfen oder im Zielland erwischt und landen im Gefängnis. Wieder andere steigen nachts in kleine Boote und überqueren unter Lebensgefahr den indischen Ozean Richtung Thailand oder Malaysia. Manche überleben die Überfahrt in den oft überladenen Booten nicht. Wer ankommt, sieht sich dort erneut mit unwürdigen Zuständen konfrontiert: Hunger, Entkräftung, Zwangsarbeit und Folter, wenn die Schlepper nicht weiteres Geld erhalten. Die zurückgebliebenen Familien erfahren oft nichts vom Schicksal ihrer Angehörigen, wie bei der Live-Diskussion berichtet wurde.
"Radio hat mein Leben verändert"
Sharifa ist froh, im Camp in relativer Sicherheit zu leben, auch wenn die Lebensumstände sehr schwierig sind. Sie hat in der Arbeit als Radio-Reporterin eine sinnvolle Beschäftigung gefunden – eine, die ihr Leben verändert hat. "Ich war früher still und schüchtern. Jetzt nicht mehr", sagt Sharifa über sich selbst. "In Myanmar arbeiten Rohingya-Frauen nur zu Hause. Hier ist das anders. Ich musste erst lernen, wie ich draußen fremde Menschen ansprechen und befragen und wie ich für mich selbst sprechen kann." Ihre Mutter sei sehr stolz, dass sie, die wie viele Rohingya-Frauen kaum lesen und schreiben kann, ihre Interviews vom Rekorder in den Laptop transferiert und dort digital bearbeitet.
Trotz der neuen Eigenständigkeit hofft Sharifa, ihren Ehemann eines Tages wiederzusehen. "Inshallah", sagt sie. Wenn Gott will.
Das gemeinsame Radioprojekt der DW Akademie und des Community Radios Naf wurde Anfang 2018 mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) initiiert. Im Mai 2018 übernahm das Auswärtige Amt die Förderung.