Kritisch hinterfragen und selbst gestalten - das stand bisher nicht weit vorn auf dem Stundenplan palästinensischer Schüler. Neue Medien-AGs sollen das jetzt ändern und Jugendlichen zeigen, wie sie sich mitteilen können.
Ahmad Al-Khatib hält ein Mikro in der Hand. Mit lauter Stimme gibt der Neuntklässler seinen Mitschülern Anweisungen für den Frühsport: "Rechts, links, vorne, hinten!" Vor Ahmad haben sich auf dem großen Schulhof ungefähr 250 Jungen in Reihen aufgestellt. Der Himmel ist wolkenlos, die Sonne verspricht einen warmen Herbsttag in Hizma, einem Dorf acht Kilometer östlich von Jerusalem. Es ist viertel vor acht, Zeit für das sogenannte Morgenradio: eine zehnminütige Live-Show, die vor Unterrichtsbeginn an allen palästinensischen Schulen stattfindet. Einige Elemente werden vom Bildungsministerium vorgegeben, andere können die Schüler selbst gestalten. Nach dem Frühsport moderiert Ahmad selbstbewusst durch die nächsten Programmpunkte: eine kurze Koransure, die Nationalhymne und ein Text über Heimatliebe, den ein Mitglied der schuleigenen Medien-AG geschrieben hat.
Das Morgenradio gab es schon immer, erinnert sich der 14-jährige Ahmad. Aber früher war es nicht üblich, dass Schüler selbst Texte verfassen konnten. Und auch die Medien-AG sei neu: "Wir überlegen uns gemeinsam Themen und arbeiten sie aus." In der AG, die von zwei Lehrern betreut wird, lernen Ahmad und seine Mitschüler, wie sie journalistische Beiträge recherchieren und verfassen.
Das wichtigste Thema für ihn: der Schulhof. "Der Asphaltbelag muss dringend durch Rasen ersetzt werden", sagt Ahmad. Manchmal würden Kinder beim Fußballspielen stürzen und sich durch den rauen Belag verletzen. Darüber habe er bereits mit seinen Freunden im Morgenradio berichtet, erzählt er stolz. Die redaktionellen Veränderungen im Morgenradio und die neu gegründeten Medien-AGs sind erste Ergebnisse des Langzeitprojekts "Jugend spricht mit! Medienkompetenz für palästinensische Jugendliche". Die DW Akademie und die palästinensische Jugendorganisation Pyalara vermitteln Schülern, wie sie Medien besser verstehen, einordnen und selbst gestalten können.
"Junge Menschen haben hier kaum Möglichkeiten, sich öffentlich zu artikulieren und in einen Dialog mit der Gesellschaft zu treten", sagt Verena Wendisch, Ländermanagerin für die Palästinensischen Gebiete der DW Akademie. Parteiische Meinungsmache in den Medien erschwere es Jugendlichen zudem, sich ein kritisches Urteil zu bilden. "Die Aus- und Fortbildung von Journalisten, die die DW Akademie seit vielen Jahren in den Palästinensischen Gebieten unterstützt, ist nur eine Seite der Medaille", betont die Ländermanagerin. "Mit dem neuen Projekt konzentrieren wir uns jetzt zusätzlich auf die andere Seite, auf die der jungen Mediennutzer." Und damit auf die Stärkung gesellschaftlicher Teilhabe für junge Palästinenser.
Zugang zu Medien verändert
Deshalb arbeiten DW Akademie und Pyalara eng mit palästinensischen Staats- und den sogenannten UNRWA-Schulen (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) zusammen, also denjenigen Schulen, die von der Unterorganisation der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge geführt werden. In Workshops bilden die beiden Organisationen nicht nur Schüler, sondern auch Lehrer fort, wie etwa an Ahmads Schule. Vermittelt werden journalistische Grundlagen, damit die Lehrer als Betreuer der Medien-AGs die Schüler darin stärken können, sich über Medien zu äußern. Ergänzt wird das Angebot durch begleitende Lehr- und Lernmaterialien zur Medienkompetenz, die künftig an palästinensischen Schulen eingesetzt werden sollen. "Wir versuchen alle Akteure mit einzubeziehen - das ist auch für uns Neuland. Und eine spannende Herausforderung: Da sind ziemlich viele Bälle gleichzeitig in der Luft, die unsere Trainer und Projektmanager auffangen müssen", sagt Tilman Rascher, Leiter Nahost und Nordafrika der DW Akademie.
Zugang zu Medien verändert. Das lernte auch Alaa Ahmad in einem Sommercamp 2014, organisiert von Pyalara und DW Akademie. Alaa stammt aus Kalandia, 15 Kilometer nördlich von Hizma. Ein gezeichneter Ort - Kalandia ist sowohl der Name eines Kontrollpostens des israelischen Militärs als auch eines Flüchtlingslagers. Hier leben die Nachfahren der Palästinenser, die 1948 bei der Staatsgründung Israels aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Alaa besucht in Kalandia eine UNRWA-Schule für Mädchen.
Ausdrücken, was Schüler bewegt
Stolz zeigt die 14-Jährige die erste Wandzeitung, die sie mit ihren Mitschülerinnen in diesem Schuljahr herausgegeben hat. Das Mädchen legt einen großen, orangefarbenen Karton auf einen der vielen Tische in der Schulbibliothek. In diesem Raum trifft sich Alaa in den Pausen und Freistunden mit der neu gegründeten Redaktion - zehn Mädchen zwischen zwölf und 14 Jahren. Auf den Karton haben die jungen Medienschaffenden mehrere Texte und Fotos geklebt. Es geht um Mobbing in der Schule.
Ältere Schülerinnen würden manchmal jüngeren das Taschengeld abnehmen oder sie zwingen, ihre Schultasche zu tragen, erklärt Alaa. "Uns war es wichtig, die Mädchen auf die Folgen aufmerksam zu machen. Wenn eine Schülerin sich in die Situation eines Mobbingopfers hineinversetzt, dann wird ihr vielleicht bewusst, was sie da anrichtet." Alaa hat viele Themenideen, über die sie gerne im Morgenradio und in der Wandzeitung berichten möchte: "Wir brauchen dringend Grünflächen in Kalandia. Ich sitze manchmal auf dem Dach unseres Hauses und überlege mir, was ich hier verändern und wo ich beispielsweise einen Garten anlegen könnte." Mit ihrem Engagement bei der Wandzeitung haben Alaa und ihre Mitschülerinnen einen Weg gefunden, das auszudrücken, was sie im Alltag bewegt.
Hinterfragende Generation
Die Schulen von Alaa und Ahmad gehören zu insgesamt acht Schulen in der Westbank, die an dem Projekt zur Medienkompetenz teilnehmen. Alle liegen in dem sogenannten Gebiet C, einem sozial und wirtschaftlich benachteiligten Territorium unter fast vollständiger israelischer Sicherheits- und Zivilverwaltung. Das Projekt, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanziert wird, begann im Frühjahr 2014 und soll bis 2016 andauern. "Unsere Kinder wurden viel zu lange dazu erzogen, zu allem ja zu sagen. Dinge in Frage zu stellen, ist bis heute nicht gern gesehen. Mit diesem Projekt tragen wir dazu bei, dass eine Generation heranwächst, die lernt, kritisch zu denken, zu recherchieren und zu hinterfragen", erklärt Hania Bitar, Leiterin von Pyalara.
Dieser Perspektivwechsel ist für Ahmad längst Realität. Die neu gegründete Medien-AG macht ihm Spaß und gibt ihm vor allem Zuversicht. "Ich bin optimistisch, dass der Belag des Schulhofes bis Ende des Schuljahres ausgetauscht sein wird", sagt er überzeugt. Auch Alaa kann sich ihren Alltag ohne Medien nicht mehr vorstellen. "Seitdem ich bei der Wandzeitung und beim Morgenradio mitmache, bin ich selbstbewusster geworden. Wenn alle an der Schule lesen und hören, was ich schreibe - das gibt mir Mut."