Medienentwicklung und künstliche Intelligenz: ein Aufruf zum Handeln | Medien, Künstliche Intelligenz und Demokratie | DW | 10.04.2024
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ein Aufruf zum Handeln

Medienentwicklung und künstliche Intelligenz: ein Aufruf zum Handeln

Mit dem Aufkommen generativer KI steht die Medienentwicklungsbranche vor neuen Umwälzungen in der globalen Informationswelt. Experten und Partner der DW Akademie sehen die Notwendigkeit gemeinsamen Engagements.

KI schafft die Gefahr einer neuen digitalen Kluft: zwischen Menschen, die Zugang zu den Werkzeugen und Ressourcen haben und die sie sich leisten können, und denen, die das nicht können. Zwischen Medienunternehmen, die in der Lage sind, die notwendigen technologischen Investitionen zu tätigen, und solchen, die dies nicht können. Zwischen Gruppen, die von der Macht der KI profitieren und gleichzeitig durch sinnvolle Regeln und Gesetze geschützt sind, und jenen, bei denen beides nicht der Fall ist.

Die Medienentwicklungsbranche muss sich den Herausforderungen stellen, die die technische Revolution mit sich bringt. Sie muss sich mit den Auswirkungen auf ihre Handlungsfelder auseinandersetzen, Antworten auf die veränderten Bedingungen für Meinungsfreiheit, Zugang zu Informationen und digitale Teilhabe finden. Sie muss Chancen erkennen. Und sie muss KI durch ihre eigene Brille betrachten und ihre eigenen Positionen und Perspektiven definieren.

Die Fragen, die sich dabei stellen, sind vielfältig: Wer hat Zugang zur Technologie? Wer betreibt die Systeme und wer kann sie für welche Zwecke nutzen? Wessen Werte werden in den Daten repräsentiert, auf denen die KI aufbaut? Wie wurden diese Daten erhoben? Wie sieht es mit dem Datenschutz, dem Urheberrecht und der Datenverwaltung aus? Wie können schutzbedürftige Personen und Gruppen vor automatisierten Kampagnen geschützt werden, die gegen sie laufen?

Gemeinsam eine angemessene Antwort finden

Derzeit entwickeln und präsentieren mehrere Nachrichtenorganisationen und -netzwerke Richtlinien und Prinzipien zum Einsatz von KI in Medien und Journalismus, wie z.B. die "Global Principles for AI" einer internationalen Gruppe von Verlagsorganisationen oder, mit einer stärkeren Ausrichtung auf Journalismus und Redaktionen, die "AI Charter in Media"einer von Reporter ohne Grenzen (RSF) einberufenen Expertengruppe zu der auch die DW Akademie gehört.

Wir von der DW Akademie sind der Meinung, dass mehr Stimmen aus einer größeren geografischen Vielfalt Teil dieses Gesprächs sein sollten. Deshalb haben wir mit Expertinnen und Experten für Medien und KI aus acht Ländern gesprochen. Auf der Grundlage dieser Interviews und Diskussionen sind wir zu dem Schluss gekommen, dass mehrere Maßnahmen für den Medienentwicklungssektor ergriffen werden müssen. Sie sollten nicht nur Ideen für das Handwerk des Journalismus beinhalten, sondern auch eine breitere, systematische Sicht auf Informationsökosysteme einnehmen.

KI und ihre Auswirkungen verstehen

Die Expertinnen und Experten, mit denen wir gesprochen haben, betonen, wie wichtig es ist, die neuesten Entwicklungen im Bereich der KI und ihre Auswirkungen auf unser Informationsökosystem gründlich zu analysieren.

Es ist essenziell, die Diskussion auf ein besseres technisches Verständnis zu gründen, sagt Asme Teka, Mitbegründer von Lesan, einem deutsch-äthiopischen KI-Startup für maschinelle Übersetzungssysteme für äthiopische Sprachen. "Wir müssen eine gemeinsame Basis dafür schaffen, was genau wir meinen, wenn wir über Medien und KI sprechen, bevor wir Grundsätze festlegen. Generative Werkzeuge umgehen viele der traditionellen Prinzipien journalistischer Arbeit."

Odanga Madung, kenianischer Journalist und leitender Forscher bei der Mozilla Foundation, erwartet eine wachsende Kluft zwischen denjenigen, die sich die neue Technologie zunutze machen können, und denjenigen, die von ihr lediglich fehlgeleitet und ausgenutzt werden. "KI wird eine transformative Technologie sein, fast so mächtig wie das Internet, wenn es darum geht, wie sie unsere Gesellschaft umstrukturiert", sagt er. 

"KI wird unser Glaubenssystem wirklich durcheinander bringen. Es wird ein Moment kommen, in dem wir uns als Gesellschaft an die Tatsache gewöhnen müssen, dass viele Inhalte generiert werden und dass wir von einer Post-Wahrheits-Gesellschaft zu einer Post-Realitäts-Gesellschaft übergehen könnten", warnt Julie Ricard, Direktorin der Data-Pop Alliance aus Brasilien. Das gilt zum Beispiel für die massenhafte Verbreitung von Desinformationen im Zusammenhang mit Wahlen, wie sie erklärt.

Die politische Dimension von Technologie

Experten rechnen mit grundlegenden Veränderungen und mahnen zu politischem Denken im Umgang mit den Auswirkungen der KI-Revolution. "Die Fehler, die mit dem Aufstieg der Social-Media-Plattformen gemacht wurden, sollten nicht wiederholt werden", sagt Jerry Sam, Geschäftsführer von Penplusbytes, einer NGO für digitale Medien aus Ghana. Zoe Titus, Direktorin des Namibia Media Trust, betont: "Wir von der Medienentwicklungsgemeinschaft müssen uns für die notwendigen politischen Rahmenbedingungen einsetzen und diese schaffen. Dies muss aus einer Menschenrechtsperspektive geschehen: KI muss für das Gute eingesetzt werden. Wir müssen uns für eine gerechte und ausgewogene Gesellschaft einsetzen."

Jede Diskussion über Technologie hat immer auch eine politische Dimension, die gerade im medialen Kontext berücksichtigt werden muss, betont Caesar Atuire. Der Philosoph von der University of Ghana unterstreicht, dass die KI-Diskussion bei der Systemfrage ansetzen muss: "Künstliche Intelligenz, wie sie heute entwickelt wird, ist ein Spiegelbild dessen, was wir sind. Und wenn wir uns bereits in einer Welt befinden, die von Vorurteilen und Voreingenommenheit geprägt ist, wird die künstliche Intelligenz diese Vorurteile nur noch verstärken und verfestigen."

"KI ist der größte Disruptor", sagt Zoe Titus. "Wenn wir uns nicht darauf einigen, wie wir sie in unsere Diskussion einbeziehen, werden wir nicht einmal an einem Tisch sitzen, an dem wir über KI-Politik für Medienfreiheit sprechen können", fügt sie hinzu.

Derzeit sind die meisten Medienakteure in der Rolle des Konsumenten, sagt Layal Bahnam, Programmmanagerin bei der Maharat Foundation, einer in Beirut ansässigen NGO für Medienfreiheit. "Bis jetzt ist es so, dass sie uns einfach das Produkt geben, das wir konsumieren - es gibt kein Bewusstsein dafür, dass wir unser Recht einfordern, in irgendeinen Entwicklungsprozess einbezogen zu werden.

Herausforderungen

Nach Ansicht der Expertinnen und Experten, mit denen wir gesprochen haben, berührt KI wichtige Handlungsfelder des Medienentwicklungssektors, wie Regulierung, die digitale Kluft, Grundrechte, Lebensfähigkeit der Medien, Bildung, Innovation oder Medien- und Informationskompetenz.

"Die Regulierung von KI gehört zu den wichtigsten Themen, zu denen sich der Mediensektor positionieren muss", sagt Ceasar Atuire. "Wir können uns eine positive und faire KI nicht vorstellen, wenn wir mit den Systemen leben, die wir haben, weil diese Systeme von supermächtigen Organisationen geschaffen werden, die selbst Nationalstaaten nicht zur Rechenschaft ziehen können."

Layal Bahnam meint: "KI-Regulierung mag in Europa etwas Gutes sein, aber in unserem Teil der Welt wird sie definitiv nicht gut sein, denn so wie wir unsere Regulierungen sehen, sind sie immer nicht für den freien Informationsfluss und die Meinungsfreiheit."

"Vier Milliarden Menschen sind nicht einmal an das Internet angeschlossen. Das Risiko besteht darin, dass wir diese großen Entwicklungen haben, die von einer kleinen Elite angeführt werden und den größten Teil der Weltbevölkerung zurücklassen", warnt Zoe Titus.

"Kleinere Medienhäuser sind nicht in der Lage, in hochwertige KI-Tools zu investieren, aber die großen schon. Das wird die Kluft zwischen der Landschaft der Community-Radios und der kommerziellen Radios zum Beispiel verschärfen oder sogar vertiefen", sagt Jerry Sam. Layal Bahnam befürchtet sogar negative Auswirkungen auf die Meinungsvielfalt, wenn nur finanzstarke Medienhäuser die KI-Technologie nutzen können: "In der MENA-Region sind die großen Medienorganisationen oft Sprachrohre der Regierung. Es besteht die Gefahr einer KI-gestützten Medieneroberung", sagt sie.

"Wir sollten unterschiedliche journalistische Praktiken in unterschiedlichen Kontexten betonen", sagt Asme Teka. Dies ist auch wichtig, um die durch KI verursachten Defizite auszugleichen. "Normalerweise konzentrieren wir uns in unserem Teil der Welt auf Geschichten aus der Bevölkerung, um Veränderungen herbeizuführen und die Lobbyarbeit der Zivilgesellschaft zu stärken. KI ist nicht in der Lage, diese Art von Gefühlen und Empfindungen der Gemeinschaft wiederzugeben. Das geht uns also verloren."

"In den Redaktionen herrschen große Angst und Unsicherheit darüber, wie diese Technologie genutzt werden kann", sagt Zoe Titus.

Es bleibt wichtig, deutlich zu machen, welche Kernfunktionen der Journalismus noch hat, ist Odanga Madung überzeugt. "Sagen Sie den Leuten, sie sollen den Fuß auf den Bremsklotz stellen und langsamer fahren. Überlegen Sie genau, was Sie in Ihren Artikel schreiben, denn Sie bewegen sich bereits innerhalb eines rechtlichen Rahmens. Wenn Sie sich nicht daran halten, ist Ihre Glaubwürdigkeit als Journalist dahin."

"Wir brauchen KI-Kenntnisse, nicht im Sinne von Programmierung von KI, sondern um zu verstehen, was sie ist und was sie kann. Für mich hat das auch einen Aspekt der Demokratisierung. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Gespräche nicht in einer Blase der technisch versierten Eliten bleiben", betont Layal Bahnam. "Ich denke, es ist sehr wichtig, dieses Wissen in die ärmeren Regionen zu bringen, die weniger Zugang zu Wissen haben und in denen diese Debatten nicht stattfinden, weil die Regierungen dies nicht unterstützen", fügt sie hinzu.

Ein Aufruf zum Handeln

Angesichts der rasanten Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz muss der Medienentwicklungssektor in den verschiedenen Bereichen aktiv werden. Medienentwicklungszusammenarbeit muss den Wandel der Medienmärkte durch KI analysieren und die Medien bei der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle unterstützen. Zum Beispiel, indem sie Medienhäusern hilft, den Wert ihrer eigenen Daten zu erkennen oder ihre Reichweite durch den Einsatz großer Sprachmodelle zu erhöhen.

Da KI die Gewichte auf den Medienmärkten zu Lasten kleiner und unabhängiger Medien zu verschieben droht, muss der Medienentwicklungssektor dazu beitragen, das Risiko neuer Kostenfallen und Abhängigkeiten von KI-Dienstleistern zu mindern. Es besteht die Gefahr einer Zweiklassengesellschaft zwischen KI-erweiterten und traditionellen Medienhäusern.

Die Medienentwicklung muss auch dazu beitragen, das Innovationspotenzial von KI in ganz bestimmten Entwicklungszusammenhängen zu erschließen. Sie muss sich systematisch mit Akteuren aus dem Technologiesektor vernetzen. Vor allem gilt es, neue Anwendungsfälle zu entwickeln und herauszufinden, wie KI neue Formen des konstruktiven öffentlichen Dialogs und einen breiteren Zugang zu Informationen ermöglichen kann.

Darüber hinaus muss die Medienentwicklung die Curricula in der Journalismusausbildung anpassen und die Chancen und Risiken von KI vermitteln. Und nicht zuletzt muss das Publikum einbezogen werden: Moderne Medienentwicklung funktioniert nicht mehr ohne die Einbeziehung der Nutzerperspektive.

Als Ergebnis der vorangegangenen Überlegungen schlagen wir drei nächste Schritte für den Medienentwicklungssektor im Hinblick auf die laufende KI-Revolution vor:

  • Analyse: Die Medienentwicklung muss ein tieferes Verständnis von KI entwickeln. Dazu gehört das Testen von KI-Tools, um Risiken und Nutzen besser einschätzen zu können. Die Zusammenarbeit mit Akteurinnen und Akteuren aus dem Technologiesektor ist unerlässlich.
  • Debatte: Die Medienentwicklung muss sich frühzeitig in die Diskussion einschalten, grundlegende Fragen stellen, Chancen und Risiken sichtbar machen und eigene Positionen entwickeln: Was für eine KI-Landschaft wollen wir, damit Medien- und Meinungsfreiheit bestmöglich gefördert werden? Wir brauchen eine KI-Folgenabschätzung, und wir sollten von den Bedürfnissen der Menschen ausgehen, nicht von der Technologie.
  • Koalitionen bilden: Es liegt auf der Hand, dass sich die Medienentwicklung gegenüber den transnationalen Technologieunternehmen in einer schwachen Position befindet, da die Technologieunternehmen über enorme Kapazitäten und Kapital verfügen, um ihre eigene Agenda durchzusetzen. Daher ist ein gemeinsames und entschlossenes Vorgehen innerhalb des Medienentwicklungssektors der einzige Weg nach vorne. Der Sektor muss zusammenarbeiten und so viele verschiedene Stimmen und Standpunkte wie möglich an einen Tisch bringen, um seine eigene Perspektive auf KI zu formulieren. Nicht jeder Akteur muss mit allem einverstanden sein, aber das Ziel ist es, gemeinsame Ziele zu definieren, um eine starke Position bei der Gestaltung und Regulierung von KI für Medien zu haben.
  • Anpassen: Der Medienentwicklungssektor sollte seine derzeitigen Strategien und Projekte überdenken und sich mit den Auswirkungen und Herausforderungen befassen, die mit AI einhergehen. Diese Herausforderung wird nicht nur darin bestehen, auf ein allgemeines Verständnis und einen Konsens in Bezug auf die Politik und den weiteren Weg des Sektors hinzuarbeiten, sondern auch sehr konkrete und spezifische Schritte bei den programmatischen Maßnahmen zu unternehmen. Es ist klar, dass die Medienentwicklung gegenüber den Technologieunternehmen in einer schwachen Position sein wird. Daher ist ein gemeinsames und entschlossenes Vorgehen innerhalb des Medienentwicklungssektors der Weg nach vorn.

 

Julius Endert ist Senior Consultant in der Abteilung Policy and Learning der DW Akademie. Jan Lublinski ist Head of Policy and Learning. 

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