Flüsse des Lebens und des Todes: Journalismus, der Verschwundenen Gerechtigkeit bringt | Lateinamerika | DW | 04.10.2023
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Interview

Flüsse des Lebens und des Todes: Journalismus, der Verschwundenen Gerechtigkeit bringt

Ein Rechercheprojekt über das gewaltsame Verschwindenlassen, unterstützt von der DW Akademie, hat zu einer bahnbrechenden Entscheidung einer kolumbianischen Justizbehörde beigetragen.

Kolumbien | Cauca River

Der Fluss Cauca in Kolumbien

Warnung: Dieser Artikel enthält anschauliche Beschreibungen von Gewalt. Bitte achten Sie auf sich, wenn Sie diesen Artikel lesen. 

Óscar Parra hat fast zwei Jahre Erfahrung in der Berichterstattung über Menschenrechtsverletzungen. Er glaubt an einen Journalismus, der nicht unbedingt darauf abzielt, die breite Masse zu erreichen, sondern vielmehr Gerechtigkeit zu schaffen. Mit der offiziellen Erklärung des Flusses Cauca zu einem Opfer des bewaffneten Konflikts in Kolumbien hat er dieses Ziel erreicht.  

Monatelang sind 15 Journalistinnen und Journalisten den Fluss entlang gereist, um Informationen und persönliche Berichte von Opfern des organisierten Verschwindenlassens von Menschen im kolumbianischen Bürgerkrieg zu sammeln. Ihr Rechercheprojekt war eine kollaborative Anstrengung: „Ríos de Vida y de Muerte“ („Flüsse des Lebens und des Todes“) wurde mit Unterstützung der DW Akademie von den Partnerorganisationen „Consejo de Redacción“ und „Rutas de Conflicto“ und gemeinsam mit dem Aufarbeitungsprojekt „Hacemos Memoria“ und dem Community-Radio „Vokaribe“ durchgeführt. 

Recherche leistet Beitrag zur Aufarbeitung 

Die gesammelten Daten bestätigen, dass in mindestens 22 Kommunen hunderte Menschen von bewaffneten Gruppen in den Fluss Cauca geworfen wurden. Aus der Recherche ist eine Datenbank gewachsen, die das Team von Journalistinnen und Journalisten an die kolumbianische Wahrheitskommision, die Spezialeinheit für die Suche nach verschwundenen Menschen und die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden übergeben hat. 

Am 11. Juli 2023 hat die kolumbianische Sondergerichtsbarkeit für den Frieden nun den Fluss Cauca offiziell als Opfer des Bürgerkriegs anerkannt. Die Entscheidung folgte einer Petition Afro-Kolumbischer Gemeinderäte im nördlichen Department Cauca, die darauf hinwiesen, dass der Fluss in den Jahren von 2000 bis 2004 als Massengrab für die Opfer des Konflikts genutzt wurde. Außerdem hätten bewaffnete Gruppen ihn mit Chemikalien aus dem illegalen Bergbau und aus der Herstellung illegaler Substanzen verschmutzt.  

In dieser Erklärung, die die entstandenen Schäden anerkennt und den lokalen Gemeinden mehr Befugnisse zum Schutz der Natur einräumt, wird der Einfluss der Videos und Zeugenaussagen des Projekts Ríos de Vida y Muerte auf die Entscheidung ausdrücklich erwähnt (die Erklärung in spanischer Sprache kann unten heruntergeladen werden). 

Oscar Parra - Leiter des Rutas del Conflicto in the presentation of the Rios de Vida y Muerte Projekt

Óscar Parra (links) präsentiert im Jahr 2019 das Projekt gemeinsam mit Temilda Vanegas, Opfer des Konflikts, Albeiro Cañas, Feuerwehrkommandant und Lia Valero, Journalistin bei Rutas del Conflicto.

Óscar Parra, Direktor von Rutas del Conflicto, gibt einen Einblick in die Recherche und erklärt, warum die Entscheidung ein historischer Meilenstein bei der Suche nach Gerechtigkeit für die Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens in Kolumbien darstellt. 

DW Akademie: Das Projekt “Ríos de Vida y Muerte” hat mit seiner journalistischen Arbeit ein außergewöhnliches Ergebnis erzielt. Warum ist es so herausragend? 

Óscar Parra: Das Projekt war eine Art experimenteller Journalismus, in dem wir die Stimmen der Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens und die Aufbereitung der gesammelten Daten kombiniert haben, um diese Geschichte zu erzählen. 

Das Ganze ist vor neun Jahren gestartet, als wir zum ersten Mal Kontakt hatten mit Opfern des Konfliktsund den Eindruck gewonnen haben, dass viele Leute immer noch nach vermissten Familienangehörigen suchen. Es gab deutliche Hinweise darauf, dass diese Menschen in die Flüsse Kolumbiens geworfen wurden. 

Dann – über die Jahre – ist uns die Dimension des Verbrechens bewusst geworden: Schätzungen zufolge werden in Kolumbien 90.000 bis 100.000 Menschen vermisst. Wir haben dann beschlossen, dass wir Karten bauen wollen, auf denen wir die Fälle eintragen und die Stimmen der Menschen, die nach Angehörigen suchen, sammeln. Wir dachten von Anfang an, dass dieses Material nützlich sein würde für unsere Behörden und Strafverfolgung. 

Wir haben außerdem zusammen mit Gerichtsmedizinerinnen und -medizinern nach Massengräbern entlang der Flüsse gesucht. Manchmal trieben die Leichen den Fluss hinunter und die Menschen hatten keine Möglichkeit, sie auf den örtlichen Friedhof zu bringen, also zogen sie sie heraus und begruben sie in einem Massengrab direkt am Fluss. An manchen Orten hat auch die Strömung dafür gesorgt, dass immer wieder Leichen angespült wurden.

Kolumbien I Messe für Opfer in der Nähe des Flusses Cauca

Ein Foto aus dem Rechercheprojekt: Am Fluss Cauca feiern Menschen eine Messe für Bürgerkriegsopfer.

Wir haben zu 50 Flüssen in Kolumbien Informationen gesammelt und uns dann detaillierter mit den Flüssen beschäftigt, entlang derer wir die meisten Fälle aufgezeichnet haben. Einer dieser Flüsse ist Cauca, der zweitlängste im Land. Die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden ist eine Rechtskommission, die aus dem Friedensabkommen mit den FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) entstanden ist und die das Ziel verfolgt, Gerechtigkeit wiederherzustellen. Sie hat die Informationen, die wir veröffentlicht haben, als Begründung genutzt für ihre Entscheidung, den Cauca zu einem Opfer des bewaffneten Konflikts zu erklären. 

Was sind die größten Herausforderungen für die Berichterstattung über gewaltsames Verschwinden in Kolumbien? 

Die Sicherheit der Quellen und ihre mentale Gesundheit. Viele Leute, die nach ihren Angehörigen suchen, tun das seit 20 oder 30 Jahren – eine Zeit, in der immer und immer wieder Leichen gefunden werden, und in der die Suchenden oft auch bedroht werden. Außerdem sind viele dieser Fälle schreckliche Gewalttaten. In den Fluss Magdalena zum Beispiel wurden mehrere Opfer zerstückelt geworfen und eine unserer Quellen hat uns berichtet, wie sie in einem Berg von Leichenteilen nach einer Spur eines Angehörigen gesucht hat.  

Es gibt auch Menschen, die, obwohl sie selbst keine Angehörigen vermissen, ihr Leben der Aufgabe gewidmet haben, menschliche Überreste aus den Flüssen zu bergen und sie würdevoll zu bestatten. Das sind alles sehr schmerzhafte Erfahrungen und wir versuchen, diese Leute mit unserer Arbeit nicht zusätzlich zu traumatisieren.  

Und wir dürfen nicht vergessen: Es ist auch wichtig zu sehen, welche Auswirkungen diese Recherchen auf Journalistinnen und Journalisten haben. 

Was können wir aus diesem kollaborativen Journalismusprojekt lernen? 

Wie wichtig Partnerschaften sind – in diesem Fall die zwischen Consejo de Redacción und der DW Akademie. Zusätzlich zu finanzieller Unterstützung hat die DW Akademie uns ein umfangreiches Training angeboten zu Themen wie Storytelling, Umgang mit Menschen, die uns von ihren Geschichten berichten, und zur Aufgabenteilung im Team.

Diese Art von Überblick über eine Recherche zu haben, war essenziell. Wir haben zu 50 Flüssen recherchiert, brauchten also Journalistinnen und Journalisten, die sich dort auskennen, die in den Regionen arbeiten. Und ohne kollaborativen Ansatz wäre das unmöglich gewesen. Außerdem haben wir mit Expertinnen und Experten aus anderen Fachgebieten zusammengearbeitet, die journalistische Arbeit noch nicht zwingend erlebt hatten – zum Beispiel Spezialistinnen und Spezialisten für Forensik, oder Entwicklerinnen und Entwickler und Designerinnen und Designer, die die Karten gebaut haben.  

Um solchen multidisziplinarischen und kollaborativen Journalismus zu ermöglichen, brauchen wir mehr Gelegenheiten, bei denen zum Beispiel zivilgesellschaftliche Organisationen, Medienschaffende sowie Akademikerinnen und Akademiker zusammen kommen können. Leider arbeiten wir viel zu oft individuell – aber diese Art von Projekten sind ein Beweis für den Wert von Teamarbeit.  

Welche Änderungen würden Sie gerne sehen, um die investigative Berichterstattung über Menschenrechtsfragen zu verbessern? 

Wir hoffen, dass wir auch in Zukunft Berührungspunkte mit anderen Organisationen haben werden, um diese Geschichten weiter zu erzählen und einen Beitrag für die Opfer des Konflikts zu leisten. Es gibt immer noch viele Familien, die nach ihren vermissten Verwandten suchen und nicht die Gewissheit haben, die ein Leichenfund bringt. Sie hatten nie die Gelegenheit zu trauern und ihre Trauer zu verarbeiten. Die Qualen dieses Informationsmangels sind ungeheuer schmerzhaft. 

In Kolumbien ist es dennoch sehr schwierig, das Publikum für Themen rund um den bewaffneten Konflikt oder Menschenrechte zu begeistern. Deshalb bietet Journalismus, der wichtige Informationen für die mit den Ermittlungen beauftragten Stellen und für die Opfer liefert, der Menschen konkret hilft, die nach ihren Angehörigen suchen, eine großartige Alternative zur reinen Berichterstattung. Für uns Journalistinnen und Journalisten ist es die größte Auszeichnung, wenn unsere Arbeit bei Entscheidungen wie dieser verwendet werden. Nichts würdigt journalistische Arbeit so sehr wie wenn sie genutzt wird, um Gerechtigkeit zu schaffen. 

 

Diese Initiative wurde zwischen 2015 und 2019 von Consejo de Redacción in Zusammenarbeit mit Rutas del Conflicto, mit Unterstützung der DW Akademie und ihren kolumbischen Partnerorganisationen Hacemos Memoria und Vokaribe Radio sowie der Pontificia Universidad Javeriana durchgeführt. Das Projekt wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstützt.

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