Der Koka-Anbau dominiert die Landwirtschaft in den bolivianischen Yungas, doch die tropischen Wälder leiden unter der Monokultur. Eine Tradition steht auf dem Prüfstand, berichtet der kulturweit-Freiwillige Aaron Wörz.
Mit verliebtem Blick bewundert Don Mario den fast zwei Meter hohen Kokabaum im bolivianischen Gebirgsregenwald. "Die Pflanze ist über 50 Jahre alt. Mein Großvater hat sie gepflanzt. Als ich ein Kind war, war unser Grundstück voller riesiger Kokapflanzen", erinnert sich der Bauer im Blaumann stolz zurück. Heute ist die Pflanze nur noch ein Relikt vergangener Zeiten. Denn im Gegensatz zu seinem Großvater, Vater und Bruder verdient Don Mario, der eigentlich Mariano Mamani Quispe heißt, seinen Lebensunterhalt mit dem Anbau von Kaffee. Das macht ihn in der zwischen Andenhochland und Amazonas gelegen Provinz Coroico zu einem echten Exoten.
Die Mehrheit der Bewohner in der Yungas-Region lebt vom traditionellen Anbau der Kokapflanze, die in der indigenen Andenkultur als heilig gilt. Das Kauen der bitteren Blätter hilft gegen Höhenkrankheit, Erschöpfung und Hunger. Grüne Zähne und mit Kokablättern gefüllte Backen sieht man hier häufig bei Arbeitern, Taxifahrern und Bauern. Seit Jahrzehnten erschließen Kokabauer neue Waldgebiete für die Expansion ihrer Kokaproduktion. Rauchwolken über den dicht bewachsenen, grünen Steilhängen sind ein tägliches Bild, die schwarze Erde verbrannter Waldflächen bestimmt die Landschaft. Das Ökosystem der Yungas leidet unter massiver Brandrodung und dem Einsatz von Chemikalien. Auf einem Kokafeld wächst nichts als Koka. Die Monokultur benötigt keinen Schatten, hinterlässt nährstoffarme Böden und erlaubt den Wäldern kaum Regeneration. Auf Don Marios Kaffeeplantage hingegen wachsen Bananenstauden, Zitrusbäume und Schilf.
Der Wald fällt den Kokapflanzen zum Opfer: Schätzungsweise 35.500 Hektar wurden zwischen 2005 und 2010 abgeholzt.
Die bolivianische Stiftung "Amigos de la Naturaleza" schätzt, dass der Kokapflanze zwischen 2005 und 2010 rund 35.500 Hektar Wald in den Yungas zum Opfer fielen. "Früher gab es keine Probleme mit dem Koka-Anbau, aber seit einigen Jahren lautet das Motto immer mehr und mehr zu produzieren", erklärt Romane Chaigneau von der Nichtregierungsorganisation "Corazón del Bosque". Seit 2012 werben Chaigneau und ihr Team in der Region für Alternativen zur Kokapflanze, um die Aufforstung voranzutreiben und die Biodiversität des subtropischen Waldes zu schützen. Don Mario ist ein treuer Partner der Organisation. Der Familienvater bekommt regelmäßig Besuch vom Agraringenieur Junior Ismael Condori Luna, der nicht nur Ratschläge, sondern auch umweltfreundlichere Pestizide und Setzlinge von Zitrusfrüchten und Kaffee verteilt.
Zusammen mit einem Team aus drei Französinnen kooperieren drei bolivianische Agraringenieure mit rund 100 Kokabauern in Coroico. Sie unterstützen die Landwirte beim Anbau von Kaffee, Honig und der Herstellung von Duftwasser aus Zitrone und Minze. „Auf diese Weise haben unsere Partner ein zweites Einkommen und weiten ihre Kokaproduktion nicht aus“, erklärt Mitarbeiterin Julie Corchia. Hohe Luftfeuchtigkeit und das tägliche Wechselspiel aus brennender Sonne und starken Regenschauern machen die Yungas zu einem gigantischen natürlichen Gewächshaus. Doch während Kaffee- und Zitruspflanzen erst nach bis zu drei Jahren Früchte tragen, kann die Kokapflanze innerhalb von zwölf Monaten bis zu viermal geerntet werden. Viele junge Männer in den Yungas erben den Beruf des "Cocalero" und haben keine Wahl, ihren Lebensunterhalt anders zu verdienen. Ganz ohne Koka geht es deshalb nicht.
Politische Unterstützung mit Ablaufdatum?
Daran ist auch die bolivianische Politik der letzten Jahre schuld. Im März 2017 unterzeichnete der ehemalige Kokabauer und Ex-Präsident Evo Morales ein Gesetz, das die legale Anbaufläche für Koka in Bolivien fast verdoppelte. "Die politische Unterstützung sichert schon lange das Einkommen der Menschen in der Region", bestätigt Don Mario. Ob die staatliche Förderung nach den bolivianischen Neuwahlen am 3. Mai im gleichen Umfang anhalten wird, ist jedoch ungewiss. Die aktuelle Übergangsregierung warf dem Sozialisten Morales in der Vergangenheit mehrfach vor, Kontakte zu Drogenkartellen zu pflegen, da Kokablätter die notwendige Basis zur Herstellung von Kokain sind. Don Mario erzählt mit ernster Miene, dass während der landesweiten Straßenblockaden nach der Wahl im Oktober auch in den Yungas Kriminelle davon profitierten, dass viele Kokabauern ihre Ernte nicht auf legalem Weg verkaufen konnten. Trotz solch finanzieller Verlockungen war keine Überzeugungsarbeit nötig, um Don Mario zum Kaffeeanbau zu bewegen. Er beschloss, zu dem Produkt zurückzukehren, für das Coroico ursprünglich bekannt wurde. Erst mehrere Gesetzesänderungen und neue Konkurrenz durch internationale Märkte in den Siebzigern ließen den Wert des Kaffees sinken – der Startschuss für den Koka-Boom in den Yungas.
Don Mario lächelt unter seinem Sonnenhut. Es macht ihm nichts aus, von seiner Familie und Nachbarn als "Außerirdischer" gesehen zu werden, versichert er. Denn der Erfolg gibt ihm Recht: Sein Kaffee erhielt bereits mehrere Auszeichnungen. Um die zunehmende Entwaldung der Yungas zu stoppen, braucht es Menschen wie Don Mario, die Traditionen und Gewohnheiten für den Schutz der Wälder in Frage stellen.
Aaron Wörz ist kulturweit-Freiwilliger der DW Akademie bei der Partnerorganisation Fundación para el Periodismo in La Paz, Bolivien.