Schuhputzer arbeiten in La Paz unter härtesten Bedingungen, viele sind minderjährig. Lukas Praller, kulturweit-Freiwilliger der DW Akademie in Bolivien, über Stigmata, Sturmhauben und Stipendien als Zukunftsperspektive.
David Alejandro Mamani Quispe ist erst 23 Jahre alt, doch er hat bereits viel erlebt. Mit acht Jahren wurde er Vollwaise, seitdem lebt er auf der Straße. Zehn Stunden täglich verbringt er draußen, Wind und Wetter ausgesetzt, auf der Suche nach Kunden, denen er die Schuhe polieren kann. Sein Gesicht versteckt er unter einer schwarzen Sturmhaube. Die Angst ist groß, erkannt zu werden, von Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen aus seinem Zweitberuf als Maurer.
Geschichten wie die von David sind in La Paz keine Seltenheit. Mehr als 3500 Menschen arbeiten hier als Schuhputzer, sogenannte Lustrabotas, manche sind nicht einmal zehn Jahre alt. Sie eint das gesellschaftliche Stigma ihres Berufs. „Schuhputzen ist so etwas wie die niedrigste Arbeit, die man in der bolivianischen Gesellschaft verrichten kann“, erklärte Federico Estol, Fotograf aus Uruguay, kürzlich gegenüber BBC Mundo. Óscar Rocabado, bolivianischer Soziologe, sieht das ähnlich. Die Lustrabotas seien die einzigen Arbeiter auf den Straßen von La Paz, die ihr Gesicht aus Furcht vor gesellschaftlicher Diskriminierung verhüllen. „Manche sagen im Scherz, dass sie es wegen dem Gestank der Füße ihrer Kunden tun. Aber sie wissen selbst, dass das nicht der wahre Grund ist“, so Rocabado.
Der Diskriminierung schonungslos ausgesetzt
David ist, wie viele junge Schuhputzer, ein sogenannter „Ambulante“: Er putzt überall dort Schuhe, wo es Arbeit gibt; ohne festen Arbeitsplatz, nur mit Putzequipment, einem kleinen Holzkasten für sein Geld und seiner Sturmhaube ausgerüstet. Auch er erfährt täglich Beleidigungen: „Viele sagen mir, dass ich nur ein einfacher Lustrabota bin. Sie schreien mir Worte nach, die sich nicht gehören, sie beschimpfen meine Familie. Das ist schon immer so.“
David ist in keinem Verband und keiner Zunft registriert. Die einzige Organisation, bei der er sich eingeschrieben hat, ist Vamos Juntos, ein gemeinnütziger deutsch-bolivianischer Freundeskreis, gegründet von der Deutschen Ruth Overbeck de Sumi. Die Organisation hat sich zum Ziel gesetzt, die Lebenssituation der Lustrabotas in La Paz zu verbessern.
Denn die Gesellschaft ist durchzogen von Vorurteilen, die die Schuhputzer betreffen. Es ist kein Wunder, dass viele Lustrabotas unerkannt bleiben wollen, wenn ihre Präsenz mit Drogenkonsum, Alkoholmissbrauch, Diebstahl und Armut assoziiert wird. „In ihren ersten Jahren lebten viele der jugendlichen Schuhputzer auf der Straße, was natürlich zu immensen Problemen geführt hat: Viele schnüffelten Klebstoff, der exzessive Konsum von Alkohol half dabei, in der klirrenden Kälte der Nacht auf 3600 Metern Höhe auszuharren und dem Hunger und der Müdigkeit zu trotzen“, erklärt Overbeck de Sumi. Heute sei die Prozentzahl der auf der Straße lebenden Lustrabotas verschwindend gering. Die Vorurteile jedoch bleiben bestehen.
„Die Leute, Magaly, tragen nur noch Turnschuhe“
Zu dem alten sozialen Stigma kommen weitere existenzielle Herausforderungen. „Wenn es regnet“, spricht die Sozialarbeiterin Magaly Carol Apaza Vargas von Vamos Juntos ein ewiges Problem des Berufsstandes an, „wirst du gar nichts verdienen. Auch am Wochenende oder an einem ruhigen Ort gerät man schnell in Schwierigkeiten.“ Neu ist hingegen, dass nun auch das veränderte Konsumverhalten der Kunden die finanzielle Situation der Lustrabotas negativ beeinflusst: „Die Schuhputzer sagen mittlerweile oft zu mir: ‚Magaly, es ist nicht mehr wie früher. Die Leute, Magaly, tragen nur noch Turnschuhe‘. Auch diese Entwicklung setzt den Schuhputzern zu und bedroht ihre Existenz“, warnt sie.
Zukunftsperspektiven durch Bildung
Die Organisation Vamos Juntos möchte den Lustrabotas deshalb neue Perspektiven geben, vor allem mit Hilfe von sogenannten „becas“, also Stipendien. Den größten Anteil macht das Bildungsprogramm aus, das verschiedene Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten umfasst. „Wir halten Bildung für enorm wichtig“, so Apaza, „da Menschen, die eine gute Bildung genießen und gewillt sind, sich akademisch weiterzubilden, eines Tages eine berufliche Karriere einschlagen können, die zu einer Verbesserung ihrer Lebensqualität in allen möglichen Bereichen führt.“
Das Ziel: Vamos Juntos möchte die Lustrabotas wieder in die bolivianische Gesellschaft integrieren. „Es ist wichtig, dass die Paceños (Einwohner von La Paz, Anm. d. Red.) wissen, dass auch Schuhputzer Personen wie du und ich sind, nicht mehr und nicht weniger. Die Leute müssen verstehen: Schuheputzen ist eine Arbeit wie jede andere auch“, sagt Apaza.
Um diese Botschaft in die Öffentlichkeit zu tragen, werden Flyer verteilt, die den Paceños von der Arbeit und den Lebensgeschichten der Schuhputzer erzählen. Zudem gibt es seit einiger Zeit das Projekt „Con otros zapatos“ (z.D.: „Mit anderen Schuhen“), bei dem Lustrabotas Besucher durch La Paz führen und zusätzlich über ihre Arbeit als Schuhputzer informieren. Eine bewusst offensive Form des Dialogs, die das gegenseitige Vertrauen stärken und auch das Image der Lustrabotas verbessern soll. Daher ist die Tour nicht nur für ausländische Touristen vorgesehen, sondern ausdrücklich auch für Schulklassen, Firmen und Bürger aus La Paz.
Erste Erfolge zeichnen sich ab
Laut offiziellen Daten der Organisation schwindet die Anzahl der jugendlichen Lustrabotas bereits, viele arbeiten nur noch aushilfsweise während der Ferien. Das sei auch den Eltern zu verdanken, so Overbeck de Sumi. „Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass nur eine gute Bildung die Basis für eine bessere Zukunft sein kann, für das Kind selbst, aber natürlich auch für die Familie.“
Die Zahl der erfolgreichen Schulabgänger sei vor diesem Hintergrund in die Höhe geschnellt. Ein weiterer Erfolg: Vor einigen Jahren noch hatten viele Lustrabotas keine Papiere. Heute besitze fast jeder Schuhputzer einen Personalausweis – Resultat des beständigen Einsatzes der Helfer vor Ort.
Doch bis die Lustrabotas als vollwertiger Teil der Gesellschaft behandelt werden, bleibt es ein weiter Weg: „Eigentlich sollte es doch schon längst besser sein. Die Gleichheit vor dem Gesetz und die Menschenrechte sind schließlich für alle da, sie betreffen jeden, und nicht nur einen Teil. Doch die Realität sieht anders aus“, sagt Sozialarbeiterin Apaza. „Aber wenn wir uns alle noch ein wenig mehr anstrengen, dann glaube ich, dass wir es schaffen können, die Sache mit der Gleichberechtigung und der gegenseitigen Toleranz.“
Der Autor Lukas Praller ist kulturweit-Freiwilliger der DW Akademie und für die bolivianische Journalismus-Stiftung „Fundación para el Periodismo“ tätig.
Zur Originalversion des Berichts hier: kulturweit: Schuhputzer in Bolivien – der Gesellschaft zu Füßen