Tagebuch einer Exiljournalistin: Notizen aus Riga | Space for Freedom | DW | 23.02.2023
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Space for Freedom

Tagebuch einer Exiljournalistin: Notizen aus Riga

Unsere Gastautorin* arbeitete als Journalistin für ein großes russisches Medium und musste nach Beginn des Krieges in der Ukraine St. Petersburg verlassen. Seit Mai 2022 lebt sie im Exil. Dies ist ihre Geschichte.

*In dieser Reihe veröffentlichen wir persönliche Tagebucheinträge von Journalistinnen und Journalisten aus Russland, der Ukraine, Belarus und Afghanistan, die im Exil leben und arbeiten. Sie sprechen über ihr neues Leben und die persönlichen und beruflichen Herausforderungen. Um die Sicherheit aller Projekteilnehmenden und ihrer Familien zu gewährleisten, veröffentlichen wir alle Texte in dieser Reihe anonym. Die Protagonistin dieses Textes nimmt am Space for Freedom-Projekt der DW Akademie teil.  

 

Herkunftsland: Russland 

Berufsbezeichnung: Redakteurin/Kulturredakteurin  

 

Es ist 7.30 Uhr, als mich der Wecker meines Handys unsanft aus dem Schlaf holt. Ich öffne meine Augen, noch zögernd, ob ich wirklich aufstehen will. Es ist schön warm unter meiner Decke, im Gegensatz zur Temperatur im Rest unserer Wohnung im Zentrum von Riga. Die Räume sind kalt und die Sonne kämpft sich erst langsam ihren Weg durch die Fensterscheiben. In der Küche kannst du den kalten Wind förmlich spüren. Trotzdem fühle ich mich hier merkwürdig sicher, an diesem Ort, an dem ich gemeinsam mit meinem Mann und meinem zweijährigen Sohn nun seit Mai 2022 lebe. 

Wir sind aus der russischen Metropole St. Petersburg nach Lettland gezogen. In Russland lebten wir in einer geräumigen Dreizimmerwohnung, zusammen mit Verwandten meines Mannes. Kurz vor der russischen Invasion auf die Ukraine hatten wir noch darüber nachgedacht, einen Kredit aufzunehmen und ein Auto zu kaufen. Aber am 24. Februar 2022 mussten wir unsere Pläne schlagartig ändern.   

Mein Mann ist ebenfalls Journalist, und unser Leben hat sich von einem auf den anderen Tag auf den Kopf gestellt. Wir mussten unser Zuhause verlassen, um weiter im Journalismus arbeiten zu können. Neue Zensurgesetze wurden in einem wahnsinnigen Tempo erlassen: Erst gab es das Gesetz zur „Diskreditierung“ der russischen Streitkräfte – kurz danach, das Gesetz zu „Desinformation“. Laut der neuen Gesetze darf niemand den militärischen Angriff Wladimir Putins offen kritisieren – und nicht einmal den Krieg als solchen benennen.

Beitragsbilder - Tagebuch einer Exiljournalistin

Im Exil sammelt die Gast-Autorin Kinderbücher in verschiedenen Sprachen (Russisch, Englisch, Lettisch, Französisch) für sich selbst und ihren zweijährigen Sohn.

Auf dem Weg zu meinem Büro laufe ich durch einen Park. Ich sehe, wie die Sonnenstrahlen durch die Äste der Bäume blitzen. Mein Arbeitsplatz ist ein gemütlicher und geräumiger Co-Working-Space im Stadtzentrum. Er wurde extra für russische und ukrainische Journalistinnen und Journalisten eingerichtet. Hier gibt es alles, was wir für unsere Arbeit brauchen: gemütliche Schreibtische, große Monitore, an die du deinen Laptop anschließen kannst, Podcast- und Videostudios, Konferenzräume. Aber das Wichtigste: Du triffst auf Kolleginnen und Kollegen aus den verschiedensten Medienbereichen. Mit ihnen kannst du Informationen teilen und Ideen diskutieren.  

Heute arbeite ich in meiner Morgenschicht als Redakteurin. Das bedeutet, ich bin von 8 Uhr morgens bis 16 Uhr nachmittags im Einsatz. Die Nachrichtenagentur, für die ich arbeite, ist eines der größten unabhängigen Medienunternehmen Russlands. Sie berichtet über Proteste und politisch motivierte Gerichtsverfahren, soziale Themen und Umweltthemen in Regionen von Wolgograd bis Chabarowsk. Die Agentur konnte ihre Unabhängigkeit bewahren, da ihr Gründer und Chefredakteur frühzeitig emigriert ist. Trotzdem haben wir noch mehr als 20 Korrespondentinnen und Korrespondenten in Russland. Dabei handelt es sich hauptsächlich um zivile Aktivistinnen und Aktivisten, die keine journalistische Ausbildung oder Erfahrung haben. Aber sie setzen sich dafür ein, die Wahrheit über die Situation in Russland zu erzählen. Diese Menschen gehen große Risiken ein, nehmen an Gerichtsverhandlungen teil und berichten über Straßenproteste. Unsere Journalistinnen und Journalisten wurden bereits mehrfach verhaftet, aber das hält uns nicht von unserer Arbeit ab.  

Heute ist ein ziemlich voller Tag: Das Stadtgericht Kowrow prüft die Klage von Alexei Navalny. Der verhaftete Politiker wurde in eine Strafzelle gesteckt, weil er sein Gesicht um 5.24 Uhr morgens gewaschen hat (laut Regeln des Gefängnisses ist das erst später erlaubt). In Moskau untersucht das Gericht den Fall von Kataryna Vernik. Die Aktivistin nahm an einem Protest teil und hielt ein Plakat hoch mit der Aufschrift: „Die Ukraine ist nicht unser Feind, es sind Brüder“. Sie wurde verhaftet und zehn Tage lang festgehalten. Jetzt geht sie gegen diese Entscheidung vor.    

Neben der redaktionellen Arbeit helfe ich auch Reporterinnen und Reportern dabei, neue Geschichte zu entwickeln, Fotos und Videos zu bearbeiten. Außerdem ist es meine Aufgabe, faktische Fehler zu korrigieren und Verstöße gegen die journalistische Ethik zu verhindern. Wenn Reporterinnen und Reporter Fragen haben, stehe ich ihnen zur Seite und teile meine Erfahrungen und meine Expertise. 

Die Arbeit hier unterscheidet sich sehr von dem, was ich vor dem 24. Februar 2022 gemacht habe. Ich war damals Kulturredakteurin bei einem großen, russischen Medienunternehmen und verantwortlich für das Verfassen von Buchkritiken, Reportagen über Filme, Ausstellungen und Theater. Es ist mir schwergefallen, meinen Lieblingsberuf zurückzulassen, da ich der Überzeugung bin, dass Kultur dazu beiträgt, die Menschen menschlicher zu machen.  

Trotzdem habe ich das Gefühl, dass es jetzt gerade meine Mission ist, politische Beiträge zu redigieren und Bürgerjournalistinnen und Bürgerjournalisten dabei zu helfen, ihre Stimme zu finden. Nach meiner Schicht arbeite ich außerdem weiterhin an Kulturartikeln. Ich schreibe Buchkritiken für verschiedene Publikationen und berichte als freie Journalistin über Ausstellungen, Performances und Filme. Nach dem Mittagessen werde ich ein Interview mit einem berühmten russischen Kino-Regisseur vorbereiten. Außerdem habe ich vor, einige Posts über Bücher für meinen eigenen Blog zu schreiben.  

 

Die DW Akademie führt das Projekt Space for Freedom als Netzwerkpartner der Hannah-Arendt-Initiative der Bundesregierung durch. Mit der Initiative unterstützen das Auswärtige Amt und die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien Journalistinnen und Journalisten, Medienschaffende sowie Verteidigerinnen und Verteidiger der Meinungsfreiheit, in Krisen- und Konfliktgebieten im Ausland und im Exil in Deutschland.