Im Irak arbeitet Noor Faraj als Reporterin und Theatermacherin. Sie glaubt an eine bessere Zukunft für die Frauen in ihrem Land – und setzt dabei auf Datenjournalismus.
„Es hat mich gestört, dass ich den Behauptungen von Politikerinnen und Politikern in Interviews oft nichts Richtiges entgegensetzen konnte“, sagt Noor Faraj. Die 28-Jährige arbeitet als Radiojournalistin im Irak. Irgendwann hatte sie die Nase gestrichen voll und wandte sich den Daten zu. „Ich will aufklären über Missstände im Land und mit Fakten gegen Falschinformationen und andere Dinge kämpfen, die hier völlig schief laufen“, sagt sie.
Im Rahmen des Online-Projekts Code >Her< der DW Akademie hat Noor Faraj einen Artikel über den ungleichen Zugang zum Internet im Irak geschrieben. Während rund 53 Prozent der irakischen Männer online sind, können sich nur 37 Prozent der Frauen mit dem Internet verbinden. Das hat drastische Auswirkungen, erklärt Faraj: „Vielen Frauen wird so der Weg zur Bildung verwehrt“, sagt sie. Über 14 Wochen hat Noor Faraj Seminare und Coachings erhalten. „Das tolle an Code >Her< ist es, nicht nur neue Dinge zu lernen, sondern sich auch mit anderen Journalistinnen aus der Region zu vernetzen“, sagt sie. Vor allem aber sei dieser Workshop wegen einer Sache wichtig: „Da ist jemand, der dich als Frau ermutigt und der dir sagt, du bist gut, du kannst das, mach!“
Wie wichtig Ermutigungen und Förderung von außen sind, hat Noor Faraj von klein auf erfahren. Sie ist in der Hafenstadt Basra im Süden des Iraks groß geworden. Einer Stadt, in deren Gesellschaft eine Frau gehorchen muss. „Als Frau hast du nichts zu wollen, du musst dich den Männern fügen“, sagt Faraj. „Und als Frau bist du an allem Schuld: wenn ein Mann dich schlägt, hast du ihn provoziert. Wenn ein Mann dich vergewaltigt, hast du mit deinen Reizen gespielt“, sagt sie. Immer wieder stößt Noor Faraj schon als Kind gegen die Mauern des Patriarchats. Es sind Frauen – Lehrerinnen und Nachbarinnen –, die sich für das Mädchen einsetzen. Als die Familie nicht sicher ist, ob sie überhaupt in die Schule soll, kam eine Frau auf ihre Eltern zu. „Sie konnte selbst weder schreiben noch lesen“, erzählt Faraj. „Sie hat meine Schuluniform bezahlt und drängte darauf, dass ich zur Schule muss.“ Bis heute ist Noor Faraj ihren Unterstützerinnen dankbar.
Träumte sich als Kind auf die Bühne – heute ist sie Theaterregisseurin und Datenjournalistin: Noor Faraj aus dem Irak.
Noor Faraj träumt sich als Teenager immer wieder in eine andere Welt. Als Theaterregisseurin, so hofft sie schon damals, könne sie in eine andere Welt tauchen, raus aus der Realität der konservativen Gesellschaft, raus aus dem Krieg, der im Irak tobt. Nach der Schule will sie aus diesem Traum Wirklichkeit werden lassen, studiert Theater an der Universität in Basra. Auf die Bühne darf sie nicht, das verwehrt ihr ihre Familie. Deshalb fängt sie an, Theaterstücke zu schreiben. „Durch die Kunst will ich andere mitnehmen in eine andere Realität, die ein wenig Liebe und Leichtigkeit bringt“, sagt Faraj. In ihren Theaterstücken stehen auch Frauen auf der Bühne – ein Affront in Basra, einer Stadt, in der heute vor allem in Religion und Moscheen investiert und darauf geachtet wird, dass Frauen so wenig Raum wie möglich in der Öffentlichkeit einnehmen.
Noor Faraj weiß, dass das früher anders war. In den 60er und 70er Jahren gab es viele Bars und Clubs, über 50 Kinos, ein Konzerthaus und zwölf Theater. Viele Künstlerinnen und Künstler traten auf Basras Bühnen auf. Heute zeugen nur alte Postkartenmotive von der damals lebendigen kulturellen Szene. Sie zeigen auch malerische Kanäle, wie in Venedig, und eine grüne, aufgeräumte Stadt. Aktuelle Bilder zeigen Müll, Zerstörung und noch mehr Müll. Krieg, Korruption und Fundamentalismus haben Basra zu der Stadt gemacht, die sie heute ist.
Noor Faraj wünscht sich ein Basra zurück, das sie selbst nie kennen gelernt hat. Sie ist müde von Basra, vom jahrelangen Kampf. Vor zwei Monaten ist sie in die Hauptstadt Bagdad gezogen. Es war ein Befreiungsschlag. Hier kann sie ein freieres Leben führen als in ihrer Heimatstadt, und hier warten noch mehr datenjournalistische Projekte auf sie. So bewarb sich Noor Faraj zusammen mit einer tunesischen Teilnehmerin von Code >Her< erfolgreich für die vierte Ausgabe von “Visualize 2030”, einem Data Camp und Ideenwettbewerb des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP). „Es gibt noch so viele Themen, zu denen wir Daten ausgraben müssen“, sagt sie. Und auch im Theater hat Noor Faraj noch vieles vor. Wenn die Pandemie vorüber ist, plant sie in Basra eine Theateraufführung – mit Frauen und Männern gemeinsam auf der Bühne.
Journalistinnen im arabischen Raum stehen im Schatten ihrer männlichen Kollegen – Aufstiegschancen für Frauen sind rar. In Zeiten des digitalen Wandels können jedoch Kenntnisse im Coding und eine Qualifizierung zur Datenjournalistin neue Karrierechancen bieten. Mit diesem Ziel startete die DW Akademie im vergangenen Jahr das Projekt Code >Her<, das sich an Frauen aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika richtet. Am ersten Kurs nahmen Journalistinnen aus Tunesien, Algerien, Ägypten, Jordanien, Libanon, Jemen und dem Irak teil. Sie erhielten 14 Wochen lang intensive Online-Workshops zum Datenjournalismus und individuelle Coachings.
Der Schwerpunkt des arabischsprachigen Trainings liegt auf der Vermittlung von Kenntnissen der Datenrecherche, der Aufbereitung der Daten bis hin zur visuellen Darstellung. Aber auch Themen wie Datensicherheit, Datenethik und der Einsatz von neuen Technologien wie Künstlicher Intelligenz werden behandelt. In diesem Jahr startet die zweite Runde mit 14 neuen Teilnehmerinnen.
Das Projekt Code >Her< wird vom Auswärtigen Amt (AA) gefördert.