Lukas Praller ist kulturweit-Freiwilliger der DW Akademie und für die bolivianische Journalismus-Stiftung „Fundación para el Periodismo“ tätig. Aus La Paz berichtet er über die prekäre Situation der Schuhputzer.
Eine Sturmhaube, eine Jacke, darunter ein FC-Barcelona-Trikot, vor ihm eine Holzkiste voller Putzmittel: Ein Lustrabota wartet in Villa Fatima, einem nördlichen Stadtteil von La Paz, auf Kundschaft.
David ist schüchtern, die Augen hat er starr auf den Tisch gerichtet, die Stimme so leise, dass man ihn kaum versteht. Den Kaffee, den er vor gut 15 Minuten bestellte, hat er nicht einmal angefasst. Ihn selbst scheint das wenig zu stören. Er murmelt einfach weiter vor sich hin, über sein Leben, über seine Arbeit, über seine Zukunft.
David Alejandro Mamani Quispe ist erst 23 Jahre alt, doch er hat in seinem jungen Leben bereits einiges durchgemacht. David ist fünf Jahre alt, da stirbt seine Mutter, sie war krank, mehr weiß er nicht. Drei Jahre später stirbt sein Vater. Seitdem lebt David auf der Straße, zehn Stunden täglich sitzt er auf dem Boden, Wind und Wetter schonungslos ausgesetzt, immer auf der Suche nach weiteren Kunden. Erkannt werden will er dabei nicht; sein Gesicht versteckt er unter einer riesigen schwarzen Sturmhaube, nur ein Schlitz in der Mitte der Mütze lässt den Blick frei auf ein braunes, müdes Augenpaar. Die Angst ist groß, erkannt zu werden, von Freunden, von Arbeitskollegen. Denn wenn es die Auftragslage hergibt, arbeitet David hin und wieder auch als Maurer. Das gute Image unter seinen Kumpels vom Bau will er sich nicht, wie er sagt, durch eine kleine Unachtsamkeit ruinieren.
Geschichten wie die von David sind in La Paz keine Seltenheit. Mehr als 3500 Menschen arbeiten hier als Schuhputzer, sogenannte Lustrabotas. Manche sind nicht einmal 10 Jahre alt, andere seit über 40 Jahren im Geschäft. Alle kennen hier nur zu gut die Diskriminierung, der sie täglich ausgesetzt sind. "Schuhputzen ist so etwas wie die niedrigste Arbeit, die man in der bolivianischen Gesellschaft verrichten kann", erklärt der uruguayische Fotograph Federico Estol, der mit einer großangelegten Fotoreportage namens "Héroes del Brillo" (z.D. "Strahlende Helden") auf die Situation der Schuhputzer aufmerksam machen will, gegenüber BBC Mundo. Óscar Rocabado, bolivianischer Soziologe, sieht das ähnlich. Die Lustrabotas seien die einzigen Arbeiter auf den Straßen von La Paz, die ihr Gesicht aus Furcht vor dem gesellschaftlichen Stigma verhüllen würden. "Manche sagen im Scherz, dass sie es wegen dem Gestank der Füße ihrer Kunden tun. Aber sie wissen selbst, dass das nicht der wahre Grund ist", so Rocabado zu BBC Mundo.
Der Stigmatisierung schonungslos ausgesetzt
Hört David diese Worte, huscht ein sarkastisches Lächeln über seine Lippen. Natürlich weiß er, wovon Rocabado redet. "Viele sagen mir während der Arbeit ohne Grund, dass ich nur ein einfacher Lustrabota bin, sie schreien mir Worte nach, die sich einfach nicht gehören, sie beschimpfen meine Familie. Das ist schon immer so", erzählt er.
Früher war David Mitglied der Organisation Maravilla, ein Zusammenschluss von Schuhputzern im Stadtteil Sopochachi, ein im Süden von La Paz gelegenes Viertel, in dem Wolkenkratzer zusammen mit hippen Cafés, Universitätsgebäuden und Banken die steilen Pflastersteinstraßen säumen. Geld ließ sich hier vergleichsweise leicht verdienen. Am Plaza Avaroa, dem hübsch hergerichteten Zentrum Sopocachis, besaß David einen eigenen Platz, die Lizenz dafür hatte er sich selbst beim Rathaus und der zuständigen Organisation erkauft, ganz offiziell. Aber weil er als Maurer gebraucht wurde, blieb er fast ein Jahr lang seinem "zweiten" Arbeitsplatz fern. "Als ich dann zurückkam, haben sie meine Stelle bereits mit einem Neuen besetzt", berichtet er. "Ich war einfach zu lange weg."
Jetzt ist David – wie viele junge Schuhputzer, die sich keiner Organisation verschreiben wollen – ein sogenannter "Ambulante", also jemand, der sich ohne Verpflichtungen aufmacht und überall dort Schuhe putzt, wo es Arbeit gibt; ohne festen Arbeitsplatz, nur mit Putzequipment, einem kleinen Holzkasten zur Geldaufbewahrung und seiner Sturmhaube ausgerüstet. Eine Lizenz muss er sich nicht kaufen, das findet er positiv. Unterstützung in Form gemeinsamer Fonds, psychologischer Betreuung, Hilfe bei Konfrontationen mit der Polizei oder bei Behördengängen kann er jetzt allerdings nicht mehr erwarten. "Ni modo", sagt David achselzuckend, "was will man schon machen?" Und so putzt David einfach "ambulant" weiter, von der Geschäftsstraße Avenida Camacho im Zentrum der Stadt bis nach Sopocachi, dem Gebiet von Maravilla, seinem ehemaligen Revier.
Die einzige Organisation, in der er sich eingeschrieben hat und auch regelmäßig Workshops besucht, ist Vamos Juntos, ein gemeinnütziger deutsch-bolivianischer Freundeskreis, der sich der sozialen und schulischen Förderung der Lustrabotas verschrieben hat. Die Organisation, deren Gründerin die Deutsche Ruth Overbeck de Sumi ist, hat sich zum Ziel gesetzt, die Lebenssituation aller Schuhputzer in La Paz zu verbessern und bietet konkrete Hilfestellungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Administration, sprich: Behördengängen, an. "Ich habe meinen Freiwilligendienst im Jahr 1997/98 in La Paz absolviert und mich dabei intensiv mit Kindern beschäftigt, die auf den Straßen von La Paz Schuhe putzen mussten", erinnert sich Overbeck de Sumi. "In dieser Zeit fragten mich die Erwachsenen immer wieder, warum wir lediglich mit jugendlichen Schuhputzern und kategorisch nicht mit älteren arbeiten würden. Daher habe ich eines Tages vorgeschlagen, Lustrabotas aus allen Altersschichten zu helfen, um angesichts der schwierigen Lebensverhältnisse wirklich jedem unter die Arme greifen zu können." Was als vage Idee anfing, wurde zwei Jahre später Wirklichkeit: VAMOS JUNTOS Freundeskreis Deutschland – Bolivien e.V. ist seit 2000 ein eingetragener Verein.
Seitdem fördert der Freundeskreis Schuhputzer vor allem mit Hilfe von Stipendien. Den wohl größten Anteil nimmt hierbei das Bildungsprogramm ein, das mehrere verschiedene Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten unter einem Dach vereint, wie die Sozialarbeiterin Magaly Carol Apaza Vargas erklärt. "Wir halten eine Bildungsgrundlage für enorm wichtig", so Apaza, "da Menschen, die eine gute Bildung genießen und gewillt sind, sich akademisch weiterzubilden, eines Tages eine berufliche Karriere einschlagen können, die zu einer Verbesserung ihrer Lebensqualität in allen möglichen Bereichen führt."
Daneben bietet die Stiftung auch ein Stipendium an, das sich direkt an die Kinder der Schuhputzer richtet. Viele von ihnen müssen bereits im frühen Kindesalter arbeiten, um zum Familieneinkommen beizutragen; dass sie die Schule mit einem vernünftigen Abschluss beenden, steht für viele nicht unbedingt im Vordergrund. Der Freundeskreis gibt in diesem Fall einen finanziellen Bonus, um die Motivation der oftmals frustrierten Kinder zu stärken und dafür zu sorgen, dass sie ihre Secundaria abschließen. "Sie geben dir Schulmaterial zum Lernen, sie geben dir anständige Schuhe, sie geben dir Schulkleidung, einfach alles", weiß David das Engagement der Helfer zu schätzen. Der größte Vorteil seiner Mitgliedschaft ist in Davids Augen jedoch ein anderer. "Man lässt uns Geld sparen. Jeden Tag können wir auf unser Konto einzahlen und das Geld dann – wann wir wollen – abheben, zu jeder Zeit, von Montag bis Samstag. Das ist vor allem dann wichtig, wenn es regnet und wir mit Schuhe putzen kaum Geld einnehmen", erklärt er.
Sorge unter Schuhputzern: "Viele Leute, Magaly, tragen nur noch Turnschuhe"
Doch genau hier steckt ein zentrales Problem: die Abhängigkeit der Lustrabotas von Faktoren, die sich nicht beeinflussen lassen. „Wenn es regnet“, sagt Apaza, „wirst du aus offensichtlichen Gründen gar nichts verdienen. Natürlich gibt es auch Tage, die nahezu prädestiniert sind, überdurchschnittlich viel Geld einzunehmen, zum Beispiel am Montagmorgen, wenn die Leute ihren ersten Arbeitstag der Woche haben und die Kinder in die Schule gehen. Aber am Wochenende, bei schlechtem Wetter, an einem ruhigen Ort, gerät man schnell in Schwierigkeiten.
Und dann gibt es ja noch die Gesellschaft und ihre Mode, die für zunehmende Absatzschwierigkeiten sorgen, wie Apaza weiter ausführt. Denn dem veränderten Konsumverhalten der Klienten haben die Lustrabotas oftmals wenig entgegenzusetzen. "Die Schuhputzer kommen mittlerweile oft zu mir und sagen: ‚Magaly, es ist nicht mehr so wie früher. Die Leute, Magaly, tragen nur noch Turnschuhe‘." Apaza schweigt nun für einen Augenblick. Sie blickt an sich herab, und deutet auf ihre Schuhe, es sind Turnschuhe. "Es ist wahr, nicht? Fast alle tragen jetzt Nikes, Adidas oder andere Turnschuhe, die aus Baumwolle oder aus synthetischem Material sind und keine Lederbehandlung brauchen. Auch diese Entwicklung müssen wir berücksichtigen, weil sie den Schuhputzern zusetzt und ihre Existengrundzlage bedroht", warnt sie.
Am schlimmsten betroffen von dieser Mischung aus wetterbedingten Unsicherheiten und unbeeinflussbaren Modetrends sind ohne Zweifel die älteren Lustrabotas. Im Gegensatz zu ihren jüngeren Kollegen können sie die ausfallenden Einnahmen nicht durch längere Arbeitszeiten kompensieren. "Stellen Sie sich einen 65 Jahre alten Schuhputzer im prasselnden Regen vor, der nicht einfach um halb 6 am Morgen bei klirrender Kälte aufstehen und zur Arbeit gehen kann. Außerdem meiden die Leute oftmals ältere Schuhputzer, weil sie wenig Zeit haben und denken, dass es länger dauern wird." So könne es durchaus vorkommen, sagt Apaza, dass ein älterer Schuhputzer, der sich einen Platz am Prado – der Prachtstraße von La Paz – gesichert hat, am Ende des Tages mit weniger als 10 oder 15 Bolivianos nach Hause geht.
10 Bolivianos. Das entspricht 1,20 Euro. Und als wären all diese täglichen Tragödien noch nicht genug, kommt dann noch die bereits erwähnte Diskriminierung hinzu.
„Man kann förmlich spüren, dass viele traumatisiert sind von den unterschiedlichsten Formen der Diskriminierung, denen sie täglich ausgesetzt sind“, berichtet Overbeck de Sumi. Schenkt man ihren Worten Glauben, so falle es fast jedem Schuhputzer schwer, über das Erlebte zu sprechen – viele würden sich hinter einer mit der Zeit angeeigneten Rolle verstecken. Doch das war nicht immer so.
Sturmhaube und Diskriminierung? Früher undenkbar
Der flächendeckende Gebrauch von gesichtsverdeckenden Stoffmützen hat seinen Anfang in den 80er Jahren. Damals entstand eine Konkurrenzsituation zwischen den Lustrabotas mit ihren Holzkästchen, wie man sie heute kennt, und den sogenannten Silloneros, die bereits seit 1908 in einer Zunft organisiert waren. Die ersten Silloneros – ihr Name rührt daher, dass die Kunden auf einem erhöhten Stuhl Platz nahmen und oftmals auch eine Zeitung überreicht bekamen – arbeiteten am Plaza Murillo, dem zentralen Platz von La Paz. Hier hatten sie direkten Kontakt mit Regierungsvertretern und Behörden, hier wurden blank geputzte Lederschuhe zum wichtigen Symbol für die Oberschicht, hier waren sie angesehen und respektiert. Das Geschäft lief blendend, mit der Zeit breiteten sich die Silloneros in weiteren Teilen der Stadt aus. In ihrer goldenen Zeit hatte die Zunft 200 registrierte Mitglieder, auch weil es innerhalb des Berufsstands keine Konkurrenz gab. Heute sind es weniger als 50.
Diese Konkurrenzlosigkeit dauerte bis in 80er Jahre an. Dann sorgte eine sich drastisch verschlechternde Wirtschaftslage in den ländlichen Regionen, einhergehend mit grassierender Arbeits- und Perspektivlosigkeit, für eine regelrechte Landflucht in Richtung des urbanen La Paz: Der informelle Sektor wuchs rapide.
Die Vorurteile blieben bestehen
In dieser Zeit traf man zum ersten Mal in der Geschichte der Stadt auf Kinder und Jugendliche, die mit ihren Holzköfferchen ausschwärmten, Schuhe putzten – und nur die Hälfte des Preises der Silloneros verlangten. Um von den verärgerten Konkurrenten, denen die Kunden in Scharen davonliefen, nicht erkannt zu werden, verdeckten sie ihr Gesicht mit Stoffmützen. Noch heute wollen mehr als 70 Prozent der Lustrabotas während der Arbeit nicht erkannt werden, berichtet die Gründerin von Vamos Juntos. Dabei seien es nicht mehr die Silloneros, die die Lustrabotas zum Tragen der Gesichtsmasken veranlassen, sondern Nachbarn, Freunde, Kollegen von früher. Die Gesellschaft ist durchzogen von Vorurteilen, die die Schuhputzer betreffen. Es ist kein Wunder, dass viele Lustrabotas unerkannt bleiben wollen, wenn ihre Präsenz andauernd mit Drogenkonsum, Alkoholmissbrauch, Diebstahl und Armut assoziiert wird. "In ihren ersten Jahren lebten viele der jugendlichen Schuhputzer auf der Straße, was natürlich zu immensen Problemen geführt hat: Viele schnüffelten Klebstoff, der exzessive Konsum von Alkohol half dabei, in der klirrenden Kälte der Nacht auf 3600 Metern Höhe auszuharren und dem Hunger beziehungsweise der Müdigkeit zu trotzen", versucht Overbeck de Sumi die Anfänge dieser pauschalisierenden Sichtweise zu erklären. Heute sei die Prozentzahl der auf der Straße lebenden Lustrabotas aber verschwindend gering. Die Vorurteile jedoch bleiben bis heute bestehen.
"Wir sind alle gleich"
Für Vamos Juntos geht es daher nicht nur darum, sich in den Bereichen Bildung und Soziales zu engagieren, sondern auch darum, den soziokulturellen Kontext in die Straßenarbeit miteinfließen zu lassen und die Lustrabotas in die bolivianische Gesellschaft zu reintegrieren. "Es ist wichtig, dass die Paceños (Einwohner von La Paz, Anm. d. Red.) wissen, dass auch Schuhputzer Personen wie du und ich sind, nicht mehr und nicht weniger", gibt Sozialarbeiterin Apaza die Marschroute vor. "Sie studieren genauso wie die anderen, sie strengen sich genauso an wie alle anderen, sie arbeiten wie alle anderen auch. Die Leute müssen verstehen: Schuhe putzen ist eine Arbeit wie jede andere auch." Um diese Botschaft auch wirksam in der Öffentlichkeit zu tragen, erstellt man nun Flyer, die verteilt werden, um den Paceños die Arbeit und die unterschiedlichen Lebensgeschichten der Schuhputzer näher zu bringen. "Wir können nicht immer auf die Lustrabotas herabblicken. Wir sind alle gleich", sagt Apaza.
Zudem existiert seit einiger Zeit das Projekt "Con otros zapatos" (z.D.: "Mit anderen Schuhen"), bei dem Lustrabotas als Touristenführer Menschen aus aller Welt durch La Paz führen, mit Hintergrundinformationen zu ihrer Stadt aufwarten und zusätzlich über ihre Arbeit als Schuhputzer informieren. Eine bewusst offensive Form des Dialogs, die das gegenseitige Vertrauen stärken, Verständnis für die Arbeit der Schuhputzer etablieren, und nicht zuletzt das generelle Image der Lustras verbessern soll. Schließlich ist die Tour nicht nur für ausländische Touristen vorgesehen, sondern ausdrücklich auch für Schulklassen, Firmen und Bürger aus La Paz.
Und was macht die Politik? Zu wenig, wenn es nach Overbeck de Sumi geht. "Man unternimmt fast nichts, um die Situation der Schuhputzer zu verbessern", sagt sie. Zwar sei die Einführung eines Tages der Schuhputzer ein wichtiges und richtiges Symbol gewesen; jedoch gebe es kein einziges Projekt, das speziell auf die Schuhputzer zugeschnitten sei und ihnen direkt helfe. Einen Gesetzentwurf gebe es inzwischen immerhin; aber die Frage müsse schon erlaubt sein, ob dieses Gesetz die Lebenswirklichkeit der Schuhputzer wirklich anspricht – oder lediglich zementiert, was ohnehin bereits offenkundig ist: nämlich, dass die Lustrabotas als eine außenstehende Gruppe wahrgenommen werden, denen unter die Arme gegriffen werden muss. "Positive Diskriminierung" nennt Overbeck de Sumi das.
Der Kampf gegen die Bürokratie
In anderen Bereichen hingegen lassen sich erste Erfolge verzeichnen. Laut offiziellen Daten der Organisation schwindet beispielsweise die Zahl der jugendlichen Lustrabotas; viele arbeiten nur noch aushilfsweise während der Ferien. Das liege auch an einer anderen Einstellung der Eltern, wie Overbeck de Sumi ausführt: "Weil sich die Situation der Eltern verbessert hat, sind die Familien nun nicht mehr so häufig auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen. Es hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass nur eine gute Bildung die Basis für eine bessere Zukunft sein kann, für das Kind selbst, aber natürlich auch für die Familie." Die Zahl der erfolgreichen Schulabgänger sei vor diesem Hintergrund in die Höhe geschnellt, ein gutes Zeichen.
Das lässt sich auch über die rechtlichen Grundlagen der Arbeit sagen. Vor einigen Jahren noch besaßen viele Lustrabotas keine Ausweisdokumente und wenn doch, dann meist lückenhaft; von einer Geburtsurkunde ganz zu schweigen. "Es war ein wahrhaftiger Kampf gegen die Bürokratie", erinnert sich Overbeck de Sumi. Aber einer, der letzten Endes von Erfolg gekrönt war. Aktuell besitzt fast jeder Schuhputzer einen Personalausweis, Resultat des beständigen Einsatzes der Helfer vor Ort. Es sind Erfolge wie diese, die auch Magaly Apaza immer wieder neue Motivation geben. "Wenn eine Person zu mir kommt und sagt: ‚Magaly, ich habe das hier erreicht‘ oder ‚Ich habe meinen Entzug erfolgreich abgeschlossen und mir geht es jetzt besser‘, dann fühle ich mich einfach nur glücklich", sagt sie mit leiser Stimme. "Solche Momente sind etwas ganz besonderes und sie helfen mir dabei, den Kopf nie in den Sand zu stecken."
"Wie eine zweite Familie für mich"
Darauf angesprochen, huscht ein Lächeln über Davids Gesicht. "Magaly gefällt es wirklich nicht, wenn wir Lustras anfangen zu trinken", nickt er und hält dann kurz inne. Nervös kratzt er sich am Hinterkopf. "Ich war auch eine Zeit lang alkoholabhängig, eine schwierige Phase. Zum Glück ist das vorbei. Wenn Magaly etwas bemerkt, sagt sie sofort: ‚Hör auf damit!‘ Das wiederholt sie immer und immer wieder. Sie und ihre Kollegen passen wirklich immer auf uns auf, sie sind wie eine zweite Familie für mich", erklärt er. An der Gesamtsituation seines Berufsstandes ändere dies jedoch wenig. "Natürlich hat sich etwas zum Guten verändert, aber nur leicht. Vielleicht um 20 Prozent. Aber viele negative Dinge passieren trotzdem immer und immer wieder. Erst letztens bin ich übelst beschimpft worden, man hat mich nicht bezahlt, und die Polizei hat drei Meter entfernt einfach tatenlos zugesehen."
Auch wegen solcher Vorkommnisse ist das Vertrauen von vielen Lustras in den Staat quasi nicht existent. Rechtsstaatlichkeit? Würde? Für David nur leere Worthülsen. Erst vor ein paar Jahren hat die Regierung verfügt, dass in jedem öffentlichen Gebäude, auf jeder Behörde, in jedem Restaurant ein Plakat aufgehängt wird, Todos somos iguales ante la ley steht dort drauf, Vor dem Gesetz sind wir alle gleich. Für David muss das angesichts seiner Erfahrungen wie bitterer Zynismus klingen. Er fragt sich, wann sich die Situation endlich ändern wird? Wird sie sich überhaupt jemals ändern?
"Eigentlich sollte es doch schon längst besser sein. Die Gleichheit vor dem Gesetz und die Menschenrechte sind schließlich für alle da, sie betreffen jeden, und nicht nur einen Teil. Die Realität sieht aber anders aus", sagt Apaza, senkt den Kopf und atmet tief ein. Zu ihrem abschließenden Satz ringt sie sich sichtlich durch. "Aber wenn wir uns alle noch ein wenig mehr anstrengen, dann glaube ich, dass wir es schaffen können, die Sache mit der Gleichberechtigung und der gegenseitigen Toleranz."
Ob Apaza Recht behält, wird man erst in ein paar Jahrzehnten wissen. Das letzte Kapitel dieser Geschichte voller Ungerechtigkeiten und Enttäuschungen, die Paceños werden es selbst zu Ende schreiben.
Lukas Praller ist kulturweit-Freiwilliger der DW Akademie und für die bolivianische Journalismus-Stiftung "Fundación para el Periodismo" tätig.