Konstruktiver Journalismus: Lösungsorientiert in Krisenzeiten | Europa/Zentralasien | DW | 17.04.2023
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Europa/Zentralasien

Konstruktiver Journalismus: Lösungsorientiert in Krisenzeiten

Für Medienschaffende aus Georgien, Kirgisistan, Moldau und der Ukraine organisierte die DW Akademie eine Studienreise nach Deutschland. Ein Thema: die Rolle von konstruktivem Journalismus in polarisierten Gesellschaften.

Negativschlagzeilen, Katastrophenmeldungen, Berichte über menschliches Leid: Nicht erst seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wenden sich viele Menschen vom konventionellen Journalismus ab. Sie fühlen sich überwältigt und machtlos angesichts der negativen Nachrichtenflut.  

Medienhäuser auf der ganzen Welt setzen auf der Suche nach neuen Erzählmodellen immer häufiger auf den Ansatz des konstruktiven Journalismus. Ziel ist es, jenseits von Schlagzeilen und Schreckensmeldungen die Menschen mit verlässlichen, faktenbasierten und lösungsorientierten Nachrichten zu versorgen. Der konstruktive Ansatz nimmt das Publikum in den Fokus, setzt auf vielfältige Perspektiven und zeigt realistische Handlungsoptionen, die Gesellschaften voranbringen können. 

Doch wie kann das konkret in der Praxis aussehen? Welche Themen bieten sich für den konstruktiven Ansatz? Und welche Rolle spielt konstruktiver Journalismus in Gesellschaften, die aufgrund von Krieg und Krisen massiv unter Druck geraten? Mit diesen Fragen beschäftigten sich die 13 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studienreise "Konstruktiver Journalismus" und machten Station bei renommierten deutschen Qualitätsmedien. Ein Highlight der Reise: der Austausch mit Ellen Heinrichs vom Bonn Institute, das sich zum Ziel gesetzt hat, gemeinsam mit der Medienbranche den Journalismus konstruktiv und lösungsorientiert zu gestalten. Außerdem besuchte die Gruppe die Redaktionen von Zeit Online, Perspective Daily und Correctiv, und tauschte sich mit Redakteurinnen und Redakteuren von RTL, Room of Solutions und der Deutschen Welle in Bonn und Berlin aus.  

Vier von ihnen berichten über Stellenwert und Zukunft von konstruktivem Journalismus in ihren Heimatregionen. 

 

Viktor Pichuhin, Nakipelo, Ukraine 

Ich arbeite für das regionale Medium Nakipelo in der Ukraine, ich bin Journalist und Direktor für den Bereich Forschung und Entwicklung. 

Meine Chefredakteurin sagt immer, die interessanten Geschichten liegen auf den Straßen bzw. sie laufen auf der Straße herum. Immer, wenn du ein Problem siehst, ein Loch im Boden, ein undichtes Abflussrohr, dann kannst du darüber schreiben, was die Menschen oder die Stadt dagegen tun können. In der Ukraine gibt es unzählige solcher Geschichten, natürlich über den Wiederaufbau vieler Städte, die von russischen Raketen zerstört wurden. Oder die psychische Gesundheit der Menschen. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind traumatisiert und es wird schlimmer, je länger der Krieg dauert. 

Auch Umweltprobleme, ebenfalls in Verbindung mit dem Krieg, wie Luftverschmutzung oder große Mengen an Minen, die sich auf unseren Getreidefeldern befinden. Wir müssen beispielsweise lernen, wie wir sie entfernen, damit unsere Bauern sicher arbeiten können. Natürlich gibt es auch weniger offensichtliche Themen, die dennoch viele Menschen beschäftigten, wie Korruption in Kriegszeiten.  

Die Zielgruppen sind dabei ganz unterschiedlich. Natürlich können wir uns an ein internationales Publikum wenden und darüber schreiben, wie uns der Westen beim Wiederaufbau unterstützen kann. Aber auf der anderen Seite geht es darum, den Menschen hier zu zeigen, wie sie die Dinge vor Ort selbst angehen können.  

Es gibt zum Beispiel mehrere Geschichten von zerstörten Wohnungen, die die Gemeinde nicht aufbauen wollte, solange der Krieg nicht vorbei ist. Also haben die Menschen selbst mit dem Wiederaufbau angefangen und als die Stadtverwaltung gesehen hat, wie erfolgreich das ist, hat sie mitgeholfen. Diese Geschichten zeigen den Menschen, dass sie nicht auf Hilfe warten müssen, sondern selbst etwas tun können. Es ist nicht immer einfach, aber es ist möglich.  

Oder als Russland begonnen hat, die ukrainische Infrastruktur mit Drohnen anzugreifen. Erst gab es viele Gerüchte, was man in solch einer Situation macht. Viele Menschen haben einfach mit Gewehren auf die Drohnen geschossen, aber das kann sehr gefährlich sein, Zivilistinnen und Zivilisten können dabei verletzt werden. Wir haben also einen Artikel geschrieben, wie das Land sich schützen kann, haben mit dem Militär über mögliche Lösungen gesprochen. Wir haben auch erklärt, was jede und jeder tun kann, es gibt zum Beispiel Apps, mit denen du das Geräusch der Drohne aufnehmen und an das Militär weiterleiten kannst, damit sie die Drohne verfolgen können. Wir haben all diese Informationen gesammelt, die Leute konnten darüber diskutieren, es war ein großer Erfolg.   

Beim Thema konstruktiver Journalismus sind es meiner nach oft die Journalistinnen und Journalisten selbst, die der Entwicklung im Weg stehen. Gerade am Anfang des Krieges wurden Journalistinnen und Journalisten häufig benutzt, um schnell Schlagzeilen zu liefern. Da brennt etwas, hier schlägt eine Rakete ein, im nächsten Moment hast du 100.000 Millionen Zugriffe auf deinen Artikel und suchst nach der nächsten schnellen Geschichte. Das ist ein großes Problem, denn es gibt diese permanente Angstmache und die Medienunternehmen freuen sich über schnelle Klicks und hohe Zugriffszahlen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen sehen nicht den Mehrwert von konstruktiver Berichterstattung, solange ihre Zugriffszahlen gut sind und sie ihr Geld bekommen.  

Was bedeutet konstruktiver Journalismus für Sie (in drei Worten)? 

Nerv (denn die journalistischen Geschichten müssen einen Nerv treffen), Reichweite (erfolgreiche konstruktive Geschichten erreichen ein großes Publikum), Scheitern (denn es ist wichtig, aus Fehlern zu lernen).  

 

Anghelina Chirciu, Nokta, Republik Moldau 

Ich arbeite für Nokta, ein kleines Medienhaus in Gagausien, einer autonomen Region der Republik Moldau. Ein großer Teil unserer Bevölkerung unterstützt Putin und den russischen Angriffskrieg. Die lokale Regierung versucht, Putins Aggressionen zu rechtfertigen, eine starke Opposition gibt es bisher nicht. Unser Medium arbeiten in Opposition zur Lokalregierung, und das ist oft schwer.   

Letzten Herbst hatten wir ein Training mit der DW Akademie zum Thema konstruktiver Journalismus, ich habe beispielsweise über ausgesetzte Haustiere in der Republik Moldau geschrieben und dabei Tierschützerinnen und Tierschützer zu möglichen Lösungen befragt. Für unsere Regierung hat das Thema keine Priorität, aber die Aktivistinnen und Aktivisten hatten viele konkrete Vorschläge. Das war meine erste Begegnung mit konstruktivem Journalismus. 

In der Republik Moldau wächst gerade das Interesse an konstruktivem Journalismus. Viele Menschen sind müde, sie wollen nicht mehr nur noch negative Nachrichten lesen. Deshalb war mein Text über Tierschutz so erfolgreich, viele Leute haben ihn kommentiert und geteilt. Daran haben wir gesehen, dass die Menschen etwas brauchen, das ihnen Hoffnung gibt.  

Heute im Workshop haben wir uns mit möglichen Problemen in Moldau befasst, über die wir berichten können, zum Beispiel ökologische Probleme wie Müllentsorgung oder Recycling. Es gibt so viele Themen, die wir auf konstruktive Weise angehen können.  

In Moldau wird das Thema gerade erst groß, viele Menschen wissen nicht, was konstruktiver Journalismus ist, es gibt bisher ein einziges Massenmedium, das sich mit diesem Ansatz beschäftigt. Wir brauchen daher noch mehr Trainings für Medienschaffende, damit sie diese Form der Berichterstattung lernen und umsetzen können.  

Früher dachte ich, Investigativjournalismus ist meine Methode, die Arbeit mit Dokumenten, die intensive Suche nach Antworten. Aber während der Trainings zu konstruktivem Journalismus habe ich festgestellt, dass ich diese Methode noch mehr mag. Sie gibt Hoffnung, Inspiration, das, was die Menschen gerade brauchen. Wir haben viele Krisen, Probleme wegen des Krieges, Geflüchtete, hohe Preise. Die konstruktiven Geschichten helfen den Menschen, psychisch gesund zu bleiben. Sie zeigen, dass es weiterhin Hoffnung gibt, dass sie die Dinge verändern können. Und dass vielleicht nicht alles wieder so wie früher wird, aber es Wege und Möglichkeiten gibt, mit der aktuellen Situation umzugehen.  

Was bedeutet konstruktiver Journalismus für Sie (in drei Worten)? 

Tiefe (suchen und verstehen), Hoffnung, Perspektive. 

 

Aziza Berdibaeva, economist.kg, Kirgisistan 

Ich arbeite als Chefredakteurin für das kirgisische Medium economist.kg, das sich auf die Themen Wirtschaft und Handel spezialisiert hat. Wir sind ein junges Medium, in diesem Jahr werden wir fünf Jahre alt. Anfangs haben wir uns nur auf Wirtschaftsthemen konzentriert, aber inzwischen schreiben wir auch über Unternehmen, das Bankenwesen, Frauen im Wirtschaftsbereich und Finanzwissen. Wir versuchen, komplexe Wirtschaftsthemen so einfach wie möglich zu erklären. Nicht viele Menschen in Kirgisistan interessieren sich dafür, daher wollen wir zeigen, wie Wirtschaft mit dem alltäglichen Leben zusammenhängt.  

Diese Studienreise und das Training ist meine erste Erfahrung mit konstruktivem Journalismus, aber ich verstehe jetzt, dass wir in der Vergangenheit schon konstruktiv gearbeitet haben, zum Beispiel beim Vergleich von verschiedenen Krediten, bei Berichten über Green Economy oder Finanzwissen. Jetzt habe ich ein noch besseres Verständnis, wie sich diese Themen konstruktiv erzählen lassen, indem man Lösungen und Optionen aufzeigt und erklärt.  

Inzwischen gibt es viele Menschen, die unser Medium lesen, da sie genug haben von traurigen Nachrichten, Nachrichten über Gewalt und Verbrechen, negative Geschichten oder Kritik und Gerüchte. Da wir über Wirtschaftsthemen berichten, ist unsere Zielgruppe momentan noch recht klein und spezialisiert, sie kommen aus dem führenden Management, sind Regierungsmitarbeitende oder Geschäftsleute. Aber wir wollen diese Zielgruppe ausweiten, den ganz normalen Leuten zeigen, dass es Sinn macht, sich für wirtschaftliche Prozesse zu interessieren, wir wollen Lösungen anbieten und Dinge erklären.  

In Kirgisistan gibt es nicht wirklich eine gesellschaftliche Mitte, es gibt ärmere, schlecht ausgebildete und reiche, gut ausgebildete Menschen. Wir müssen besser verstehen, mit welchen Formaten wir beide Gruppen erreichen können.  

Eine wichtige Erkenntnis für mich nach den Workshops heute ist, dass wir als konstruktive Journalistinnen und Journalisten noch mehr zu Expertinnen und Experten werden müssen, um zu überprüfen, ob die konstruktiven Lösungen, die wir präsentieren, auch wirklich gute und sinnvolle Lösungen sind.  

Was bedeutet konstruktiver Journalismus für Sie (in drei Worten)? 

Positivität, Lösungen, Zukunft. 

 

Nino Orjonikidze, Chaikhana, Georgien 

Ich arbeite als Auftragsredakteurin für Dokumentationen und Videoinhalte für die Medienplattform Chaikhana, die den südlichen Kaukasus, Georgien, Armenien und Aserbaidschan abdeckt.  

Wir wurden von der DW Akademie in konstruktivem Journalismus trainiert und arbeiten an einem Projekt zur Umsetzung in unserer Redaktion. Wir versuchen, Videos, Foto-Stories und Artikel auf diese Art zu produzieren. Trotzdem glaube ich, dass es aktuell schwierig ist, konstruktiv zu arbeiten, denn die Medien in Georgien sind sehr polarisiert, besonders das Fernsehen. Eine Seite unterstützt die Regierung, die andere die Opposition, es gibt keinen Raum für Dialog. Bei den Online-Plattformen ist es etwas besser, es gibt unterschiedliche Perspektiven, und daher mehr Potential für konstruktive Ansätze. Aber auch die Gesellschaft ist extrem polarisiert. Gleichzeitig ist es in unserer Breaking-News-Kultur schwierig, nachhaltig und langfristig zu arbeiten und nach Lösungen zu suchen.  

Die konstruktive Idee ist in meinen Augen ein ganzheitlicher Ansatz, es geht um vertiefenden, ausgewogenen Journalismus statt Sensationsberichterstattung. Es ist eine grundsätzliche Einstellung.  

Leider wird in meinem Land konstruktiver Journalismus oft mit Aktivismus verwechselt, es wird angenommen, dass die Journalistinnen und Journalisten einseitig positiv berichten. Aber darum geht es nicht, es geht darum, das große Ganze zu sehen, lösungsorientiert zu sein, eng mit Quellen zu arbeiten, nach klugen Lösungen zu suchen. Ich mag zum Beispiel die Technik des Umkehrmechanismus, bei dem man ein Opfer nicht als Opfer stilisiert, sondern als Person mit einer wichtigen Erfahrung, die etwas beizutragen hat.  

Leider gibt es in Georgien nicht viel Raum dafür, denn du wirst sofort in eine Schublade gesteckt und als regierungsfreundlich abgestempelt. Dabei wollen wir genau das Gegenteil, unabhängig und ausgewogen berichten, aus verschiedenen Perspektiven. Es ist wichtig, bei den Geschichten verschiedene Teile der Gesellschaft einzubeziehen, gemeinsam Geschichten zu entwickeln. Denn gerade hier kann man Lösungen finden. Raum für Dialog schaffen.  

Das ist schwierig aber in meinen Augen eher realistisch mit jungen Medien. Gerade die junge Generation ist wichtig, sie haben Zugang zu Technik und sind flexibler bei der Suche nach Informationen, während die älteren häufig an traditionellen Kanälen festhalten. Das haben wir kürzlich bei den Protesten hier in Georgien gesehen, als vor allem junge Leute, Teenager, auf die Straßen gegangen sind, um gegen ein neues Gesetz zu protestieren, das international finanzierte Unternehmen als „ausländischen Agenten“ stigmatisieren sollte.  

Trotzdem sollten wir perspektivisch alle Generationen beim konstruktiven Journalismus einbeziehen, Jung und Alt 

Was bedeutet konstruktiver Journalismus für Sie (in drei Worten)? 

Unvoreingenommen, inklusiv, multiperspektivisch.