Rüdiger Maack war bis 2006 vier Jahre lang ARD Studioleiter in Rabat, Marokko. Jetzt ist er in den Maghreb zurückgekehrt und leitet das DW Akademie-Büro in Tunis. Ein Gespräch über den gesellschaftlichen Umbruch.
Als Leiter des Büros in Tunis haben Sie einen recht guten Überblick über die Entwicklung der tunesischen Gesellschaft und der Medien seit dem Sturz Ben Alis. Wie würden Sie diese beschreiben, und wie geht es weiter?
Der Umbruch hält an, es ist noch nichts fertig. Die Menschen werden deshalb ungeduldig und fordern immer vehementer, dass sich etwas bewegt. Bei meiner Arbeit gibt es sichtbare Erfolge: Mitarbeiter eines Radiosenders setzen Empfehlungen aus Trainings und Beratungen um. Die Qualität der Medien steigt, die Journalisten arbeiten professioneller. Allerdings ist noch völlig unklar, wie die Mediengesetzgebung aussehen wird. Die Rahmenbedingungen ändern sich ständig, das stellt uns immer wieder vor Herausforderungen.
Bei den privaten Medien ist zum Beispiel sehr viel Dynamik und ein großer Idealismus vorhanden. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten treten heute viel stärker zutage als unter der Diktatur. Das macht die Gesellschaft bunter. Andererseits besteht die Gefahr, dass die Gesellschaft auseinanderfällt: Die wohlhabenden und intellektuellen Schichten wollen "ihr" weltoffenes, liberales und tolerantes Tunesien erhalten. Andererseits sind da die Armen aus den Vorstädten und ländlichen Gebieten. Prediger aus den arabischen Golfstaaten erzählen ihnen, dass ihr Heil in der Hinwendung zum Islam liegt. Aber im Grunde bin ich sehr optimistisch, dass die Tunesier diesen Konflikt lösen werden. Sie sind auf einem guten Weg.
Häufiger ist von einer spürbaren "Offenheit“ in Tunesien die Rede. Erleben Sie diese auch?
Die Offenheit, die ich erlebe, ist großartig. 90 Prozent meiner Gespräche wären vor dem Januar 2011 so nicht möglich gewesen. Alle hatten Angst vor der Überwachung und der Bespitzelung. Zwar gibt es auch heute immer noch Bespitzelung, aber die Angst ist weg. Das ändert alles. Viele Tunesier beschweren sich jetzt über mangelnde Sicherheit, den langsamen Fortschritt in der Politik oder die immer noch schlechte wirtschaftliche Situation vieler Menschen. Aber das neue, offene, streitende und überaus lebendige Tunesien ist gar nicht zu vergleichen mit dem Polizeistaat, der es vorher war.
Wie würden Sie die neue Gesprächskultur näher beschreiben, und unterscheidet sich diese in Ihren Augen von der in Deutschland?
Die Unterschiede sind nicht groß. Ich glaube, das hängt auch damit zusammen, dass Tunesien eine Art Brücke zwischen der arabischen und der europäischen Welt darstellt – das sehen vor allem in der Hauptstadt Tunis viele Menschen auch so. Und sie sehen sich vor allem als Mittelmeeranrainer. Somit ist der Unterschied zu Süditalien, Südfrankreich oder Spanien nicht so groß, wie man vielleicht denkt – in der Hauptstadt Tunis. Auf dem Land sieht das teilweise anders aus.
Sie führen täglich Gespräche mit Vertretern tunesischer Medien, Politik und Gesellschaft. Wie läuft ein typisches Meeting ab und welche Besonderheiten gibt es?
Es gehört dort zum guten Umgang, ein Meeting zwei- oder dreimal zu bestätigen. Wie wichtig das ist, habe ich am Anfang unterschätzt. Ich hatte Meetings, bei denen sich die Partner noch über Mail und Telefon versichert haben, dass der Termin stattfindet. Obwohl wir ihn zuvor schriftlich vereinbart hatten.
Bei Behörden und großen Firmen wird die Hierarchie schon mit der Einrichtung der Büros klargestellt: Der Chef sitzt hinter einem großen, ausladenden Schreibtisch, davor die Besucher, praktisch wie Bittsteller, auf kleineren Stühlen um ein niedriges Tischchen.
Überrascht war ich davon, wie hart Tunesier in Meetings Konflikte austragen. Ich habe Besprechungen erlebt, in denen richtig die Fetzen flogen. Ganz weit vorn waren immer die Frauen, die sich gegen männliche Kollegen durchsetzen wollten. Das fand ich schon sehr erstaunlich, vor allem nach meinen Erfahrungen in Marokko. Dort funktioniert die Kommunikation ganz anders – sehr viel indirekter und in Anspielungen, ein klares "Nein" gilt schon als unhöflich.