Galina Timtschenko von „Meduza“: „Ich hatte noch nie Angst vor Tyrannen. Ich verachte sie sogar.“ | Europa/Zentralasien | DW | 16.02.2023
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Europa/Zentralasien

Galina Timtschenko von „Meduza“: „Ich hatte noch nie Angst vor Tyrannen. Ich verachte sie sogar.“

Die Sicherheit von Medienschaffenden, auch im Exil, ist nicht erst seit Anfang des Ukraine-Kriegs ein dringendes Anliegen. Wir sprachen mit Galina Timtschenko des russischen Mediums Meduza über die Arbeit im Exil.

Im Oktober 2014 startete die Journalistin Galina Timtschenko das plattformübergreifende Medienprojekt „Meduza“ in englischer und russischer Sprache. Die Berichte reichen von aktuellen Nachrichten bis hin zu umfangreichen Reportagen aus Russland und der ehemaligen Sowjetunion. Das Medienunternehmen operiert offiziell aus dem Exil mit Sitz in Riga, Lettland, und wurde zwischenzeitlich von der russischen Regierung als "ausländische Agenten" und kürzlich als “Organisation, die die Konstitution und Sicherheit Russlands bedroht”, eingestuft.

DW Akademie: Frau Timtschenko, warum haben Sie, nachdem Sie im Jahr 2014 Russland verlassen mussten, Meduza in Riga gegründet?

Riga war mehr oder weniger eine naheliegende oder vielleicht die einzig wirkliche Wahl, die wir hatten. Es war uns klar, wonach wir suchten: ein Land mit einer angemessenen Anzahl russischsprachiger Bürger und Bürgerinnen, mit denen wir in unserer Muttersprache kommunizieren konnten. Es lag auch in der gleichen Zeitzone. Und im Jahr 2014 empfing uns Lettland mit offenen Armen. Das Außenministerium half uns mit unseren Dokumenten und Anträgen. Wir waren ein hervorragendes Team, das in ein Land kam, in dem es zu dieser Zeit keine anderen russischen Medien gab. Vor allem damals eröffneten viele russische Medien Zweigstellen in London oder den USA und verloren ihre Verbindung zur Sprache. Das ist nicht gut, wenn du ein russischsprachiges Publikum bedienen willst.

Wie sah die Medienlandschaft in Russland zu dieser Zeit aus? Warum mussten Sie umziehen?

Im Jahr 2013 begann in Russland ein massiver interner Angriff, insbesondere auf die russischen Medien. Seltsamerweise begann er mit der Entlassung von Swetlana Mironjuk, der ehemaligen Chefredakteurin der Nachrichtenagentur RIA Novosti. RIA Novosti existiert seit 2013 nicht mehr und wurde zu dem, was wir heute als Russia Today (RT) kennen.

Zusammen mit einigen anderen führenden unabhängigen Journalisten und Journalistinnen traf ich mich beim TV-Sender ‚Dozdh‘ und wir deuteten aufeinander und sagten im Chor: "Du bist der/die Nächste." Und genau genommen ist es genau so gekommen.

Trotzdem fühlte es sich an wie ein Erdbeben, als das damals mit Lenta.ru geschah. Ich war zu diesem Zeitpunkt dort Chefredakteurin und es war, als würde der Boden aufbrechen: Mein Verleger wurde in den Kreml gerufen und gefragt, ob ich mit dem Kreml zusammenarbeiten würde oder nicht. Wie konnte ich ja sagen? Das verstößt gegen alle meine Prinzipien. Mein Verleger verneinte also, und ich wusste, dass ich das Land verlassen und neu anfangen musste. Mein Team und ich kamen 2014 nach Riga mit dem Auftrag, Nachrichten außerhalb Russlands zu machen und ein Medienunternehmen aufzubauen, das in ganz Russland gelesen wird. Wir haben natürlich nie verheimlicht, dass wir in Lettland

sind, und die Leute haben uns immer gefragt: "Wie könnt ihr über Russland schreiben, wenn ihr in Riga seid?"

Und wie können Sie das?

De facto war die Hälfte meines Teams in Lettland. Es gab Entwickler und Entwicklerinnen, Designer und Designerinnen, Fotografen und Fotografinnen, Chefs und die Nachrichtenredaktion. Nur die Redakteure und Redakteurinnen sowie Korrespondenten und Korrespondentinnen saßen alle in Russland und arbeiteten von dort aus ohne größere Probleme.

Haben Sie jetzt noch Korrespondenten und Korrespondentinnen in Russland?

Nein, wir haben keine Korrespondenten oder Korrespondentinnen mehr in Russland. Nach dem Beginn des Krieges und insbesondere nach der Einführung des neuen Gesetzes über „Kriegsfälschungen und Propaganda“ im März 2022, das bis zu 15 Jahre Gefängnis für die Veröffentlichung von Informationen über den Zustand der russischen Armee vorsieht, haben wir alle Korrespondenten und Korrespondentinnen und ihre Familien innerhalb von zwei Wochen ausgeflogen.

Was sind die größten Probleme, mit denen Sie derzeit bei Ihrer Berichterstattung konfrontiert sind?

Wir sehen uns mit ähnlichen Problemen konfrontiert wie zu unserer Zeit als Medienschaffende in Russland. Zunächst einmal stellen wir einen Mangel an verfügbaren Quellen fest. Die Quellen sind jetzt einem größeren Risiko ausgesetzt, sie sind sozusagen versiegt, insbesondere nachdem wir als ‚ausländische Agenten‘ gebrandmarkt wurden. Wir waren übrigens die ersten, die diese Kennzeichnung erhielten!

Die meisten unserer Quellen kehrten jedoch zu uns zurück, vor allem nachdem immer mehr Medien als ausländische Agenten eingestuft wurden. Sie haben verstanden, dass ‚Roskomnadsor' nicht nur hinter uns her ist, sondern hinter jedem und jeder in Russland. Heutzutage ist es schwierig, Beiträge über und aus Russland zu produzieren. Wir müssen Proxy-Journalismus betreiben. Eine Person ruft jemanden an, eine zweite Person geht hin, eine dritte Person stellt Fragen und eine vierte Person behält alles im Auge und so weiter.

Dieser Mosaikjournalismus ist für uns sehr anstrengend. Es dauert viel länger, drei- bis viermal länger als normal, eine Geschichte zu veröffentlichen und die Fakten zu überprüfen, aber wir schaffen es. Denn es war nie unser Ziel, die Schnellsten zu sein. Wir haben Angst, weil alle unabhängigen Stimmen zum Schweigen gebracht werden. Wir beobachten hier ein systematisches Phänomen, aber wir machen trotzdem weiter.

Wer ist Ihr Publikum?

Unsere Hauptzielgruppe sind russischsprachige Menschen. Wir möchten, dass sie wissen, dass sie nicht allein sind und wir ihnen zur Seite stehen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass Informationen für den durchschnittlichen russischen Leser und die russische Leserin in den letzten 20 Jahren mit nur einem Klick verfügbar waren. Im Vergleich zu den Belarussen

und Belarussinnen, die schon früh gelernt haben, wie man die staatliche Zensur durch den Einsatz verschiedener Hilfsmittel umgehen kann, ist der durchschnittliche russische Medienkonsument nicht daran gewöhnt, sich um Informationen zu bemühen.

Wir bereiteten uns darauf vor, in Russland blockiert zu werden, und stellten fünf VPNs für unsere Leser und Leserinnen zur Verfügung. Zweieinhalb Millionen Menschen haben anfangs eine der fünf Optionen heruntergeladen. Nach zwei Monaten sahen wir uns unsere Daten an und stellten fest, dass nur 1,5 Millionen unserer Leser und Leserinnen sie auch wirklich nutzten; weil man dafür mehr Aufwand betreiben muss. Man muss sie aktiv einschalten, einen Ort wählen, an dem unsere Inhalte nicht blockiert werden, und sie ausschalten, wenn man fertig ist. Kurz gesagt, es bedeutet vier bis fünf zusätzliche Arbeitsschritte, die viele Russen und Russinnen nicht gewohnt sind, wenn es um den Zugang zu Nachrichten geht.

Außerdem sind die Menschen nach fast einem Jahr Krieg einfach müde, schlechte Nachrichten zu lesen. Wir tun alles, was wir können, um Informationen bereitzustellen, aber wir können die Menschen nicht zwingen, sich unsere Inhalte anzusehen.

Glauben Sie, dass viele Russen und Russinnen diesen Krieg unterstützen?

Wir dürfen nicht vergessen, dass es in Russland eine Menge Gesetze und Repressionen gibt, gerade wenn es um den Krieg geht. Es gibt viele Menschen, die gegen den Krieg sind, aber in Russland bleiben und dort leben müssen. Sie sind gezwungen, eine Überlebensstrategie für sich selbst zu finden, und sie wählen diejenige, bei der sie sich nicht wehren müssen. Und niemand hat das Recht, ihnen das vorzuwerfen, denn die repressive Maschinerie, die in Russland am Werk ist, ist für den Westen sehr schwer zu verstehen.

Viele Male musste ich die Frage meiner westlichen Kollegen und Kolleginnen beantworten: „Warum gehen Sie nicht vor Gericht?" oder „Warum protestieren Sie nicht gegen den Krieg?" Und jedes Mal, wenn ich diese Frage höre, habe ich das Bild von Medwedew vor Augen, der uns sagt, wir sollen vor Gericht gehen - und uns dann verhöhnt. Niemand versteht die erstickende Atmosphäre der Angst in Russland. Es ist schwer, den Menschen zu erklären, dass der Einfluss und die Macht der russischen Sicherheitsdienste zugenommen haben. Menschen werden nicht nur verprügelt, sondern getötet. Menschen werden nicht nur ins Gefängnis geworfen, sondern gefoltert. Jeden Tag gibt es zehn neue Anklagen im Zusammenhang mit Antikriegsgesetzen.

Wir sind wichtig für unser Publikum, denn in Russland gibt es keinen anderen Regierungszweig als die Vierte Gewalt. Es gibt keine Meinungsfreiheit, aber die Journalisten und Journalistinnen sind immerhin noch am Leben. Und so tragen wir eine große öffentliche Verantwortung. Jeden Tag gibt es mindestens eine Anklage gegen russische Medienschaffende. Natürlich sind das nur Zahlen und für jemanden, der nicht in Russland aufgewachsen ist, ist es schwer, das zu verstehen.

Wie sieht Ihr Einstellungsverfahren für die Redaktion im Moment aus? Was sind Ihre Einstellungskriterien?

Wenn es um die Einstellung von Redakteuren und Redakteurinnen geht, bin ich sehr strikt darin, keine ehemaligen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von russischen Staatsmedien wie Pervij Kanal oder RT einzustellen. Für mich ist das einfach undenkbar und zwar aus einem einfachen Grund: Die russische Zensur hat nicht im Jahr 2022 oder gar 2014 begonnen. Sie begann vor mehr als 20 Jahren und erreichte ihre volle Blüte vor acht Jahren.

Und wenn sich jemand in Zeiten ohne Krieg bewusst dafür entscheidet, für solche Medien zu arbeiten, was sagt das dann über diese Person aus? Es sagt Ihnen, dass die Moral bei diesen Leuten ziemlich schief hängt. Natürlich werfen wir auch einen Blick auf ihre Profile in den Sozialen Medien.

Für mich ist es sehr wichtig, dass eine Person nicht für sich selbst arbeitet, sondern für das Team. Wenn das Hauptziel die Selbstdarstellung ist, ist diese Person für mich uninteressant. Ich weiß, wer hinter jeder Geschichte steckt und das ist nicht nur der Redakteur oder die Redakteurin. Es ist der Fotograf oder die Fotografin, der Grafiker oder die Grafikerin, ein zweiter Redakteur oder Redakteurin. Es gibt keinen einzelnen Journalisten und Journalistinnen - es ist immer ein Team.

Können Sie sich vorstellen, nach Russland zurückzukehren und in der Medienbranche zu arbeiten?

Ich glaube nicht, dass ich jemals in meinem Leben nach Russland zurückkehren und unabhängig arbeiten kann. Der Grund dafür ist einfach: Die Korruption in Russland ist überall, nicht nur um Putin und seinem inneren Kreis herum. Solange sich diese Mentalität nicht ändert, gibt es für mich keine Zukunft in Russland. Einige meiner jüngeren Kollegen und Kolleginnen denken jedoch anders. Sie hegen immer noch die Hoffnung, eines Tages in ein besseres Heimatland zurückzukehren.

Manche Leute könnten denken, dass Sie Angst vor Putin haben. Stimmt das?

Ich habe definitiv keine Angst vor Putin oder seinen Kumpanen und das werde ich auch nie haben. Ich hatte noch nie Angst vor Tyrannen, vor Menschen, die anderen das Leben zur Hölle machen. Ich verachte sie sogar. Welchen Sinn hat es, Angst zu haben?

Welche Vorschläge haben Sie für andere Medien im Exil?

Viele internationale Organisationen versuchen, Medien im Exil zu unterstützen, aber zu ihren eigenen Bedingungen. Sie versuchen uns beizubringen, wie echter Journalismus aussehen sollte. Aber wir haben hervorragende Journalisten und Journalistinnen. Was den Medien im Exil fehlt, ist grundlegendes Wissen über das Land, in dem sie sich aufhalten. Finanzwissen, Managementfähigkeiten, technologisches Wissen.

Medien im Exil brauchen auch Hilfe beim Medienmanagement. Dazu gehören nicht nur die Vertriebskanäle, sondern auch die Möglichkeit, auf diesen Kanälen zu experimentieren, und es bedeutet auch, dass sie wissen, wie man mit einem Budget verantwortungsvoll umgeht, und sie über juristisches Wissen verfügen. Da viele russische Medienunternehmen nach

Kriegsbeginn in die EU abgewandert sind, brauchen sie Kenntnisse über die Steuersysteme und das Medienrecht des jeweiligen Landes.

Ich halte auch technologische Fähigkeiten für sehr wichtig und im Hinblick auf die jüngsten Ereignisse ist es auch von entscheidender Bedeutung, ein Krisenprotokoll zu haben. Wir sollten auch die Cybersicherheit nicht vergessen, und wenn es Organisationen gibt, die dabei helfen können, sind wir sehr dankbar.

 

Hintergrund:

Zahlreiche zivilgesellschaftliche Organisationen beschäftigen sich derzeit mit dem Schutz von Medienschaffenden und der Unterstützung von Medien und Medienschaffenden im Exil. Auch die DW Akademie engagiert sich in diesem Bereich. Im Jahr 2022 wurde von der Bundesregierung zu diesem Zweck die Hannah-Arendt-Initiative ins Leben gerufen. Dabei handelt es sich um ein Netzwerk zivilgesellschaftlicher Organisationen, das auf Initiative und mit Mitteln des Auswärtigen Amtes und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefährdete Journalistinnen und Journalisten aus Afghanistan, der Ukraine, Russland und Belarus bei ihrer wichtigen Arbeit schützt und unterstützt.

Erste Projekte umfassten Trainingsmaßnahmen, regionale Stipendienprogramme und Exil-Journalismus-Zentren in Drittländern sowie entsprechende Maßnahmen im Exil in Deutschland. Mehr Informationen finden Sie auf der Hannah-Arendt-Initiative Website.