Gewaltsames Verschwindenlassen: Das Schweigen brechen

Die Corona-Pandemie hat sich auch auf das gewaltsame Verschwindenlassen in Mexiko ausgewirkt. Vier investigative Recherchen stellen die neue Realität journalistisch und künstlerisch dar.

Screenshot Desaparecer en Pandemia
Bild: desaparecerenpandemia.org

„Wer hier eines gewaltsamen Todes stirbt, gerät in Vergessenheit,“ schreibt die mexikanische Journalistin Patricia Mayorgaüber Ciudad Juárez, eine Grenzstadt nahe den USA, die einst als „Ort der verschwundenen Frauen“ bekannt war. Dort nahm in den ersten beiden Jahren der Pandemie die Gewalt zu: Allein im Stadtzentrum wurden 59 Menschen umgebracht.

Mayorga fand heraus, dass im Schatten der Pandemie die sogenannten Geisterhotels wieder zum Leben erwacht sind. Bereits vor gut einem Jahrzehnt waren sie Schauplätze von sexueller Ausbeutung, Menschenhandel und Frauenmorden, bis sie nach der Zerschlagung des verantwortlichen Schmugglerrings geschlossen wurden.Hundertejunger Frauen verschwanden damals und wurden Jahre später tot oder nie mehr aufgefunden.Seit der Wiedereröffnungberichten Mayorgas Quellen vonverdächtigen Beobachtungen und nächtlichen Schreien. Die Menschen vor Ortfürchten, dass sich die Geschichte wiederholt.

Die neue Normalitätverändert dasorganisierte Verbrechen

Wer heute in dieses düstere Ambiente von Ciudad Juárezeintauchen möchte, kann das auf der 3D-Webseite des Projekts “Verschwinden in der Pandemie” tun.Mayorgas Reportage ist eine der vier Geschichten, die im Rahmen einesForschungsprojektes von Técnicas Rudas mit Unterstützung derDW Akademie entstanden sind. Sie verdeutlichen, wie die durch die Pandemie hervorgerufene prekäre Wirtschaftslage den Drogenhandel und den Schwarzmarkt in Mexiko begünstigen. Sie zeigen, wie das organisierte Verbrechen neue Märkte erschließt – etwadie illegale Abholzung im Bundesstaat Chihuahua, wo und Aktivistinnen und Aktivisten in indigenen Gebietenin der Folge spurlos verschwinden.

DW Akademie Vertriebene in Guadalupe
Die Angst vor der organisierten Kriminalität im Zusammenhang mit dem illegalen Holzeinschlag zwingt ganze Familien dazu, ihre Heimat zu verlassen und in andere Gemeinden zu ziehen. Bild: Raúl Pérez/DW

Das Rechercheteam berichtet zudem von überproportional hohen Vermisstenzahlen auf einer der wichtigsten Handelsstraße des Landes im Bundesstaat Tamaulipas, wo im Abschnitt zwischen Monterrey und Nuevo Laredo im vergangenen Jahr mehr als 75 Vermisste gemeldet wurden. Und sie machen deutlich, dass das organisierte Verbrechen auch online agiert: zum Beispiel, indem es Jugendliche in den sozialen Netzwerken mit vielversprechenden Jobangeboten lockt, um sie dann zur Zwangsarbeit zu entführen.

Bereits zu Beginn der Pandemie wurde vielfach prognostiziert, dass Grenzschließungen und Ausgangssperren auch Folgen für den Modus Operandi des organisierten Verbrechens haben würden. Und damit, so ahnte das Team von Técnicas Rudas, auch auf das gewaltsame Verschwindenlassen. Vermutungen oder Hinweisen zur Arbeitsweise der kriminellen Organisationennachzugehen, erweist sich als schwierig, weil sich kaum jemand traut, darüber zu sprechen. Es ist auch gefährlich, darüber zu berichten. Und weil zudem viele Medienhäuser nicht unabhängig von politischen Interessen agieren, haben sich blinde Flecken in der Berichterstattung gebildet. In den Mainstream-Medien wird das gewaltsame Verschwindenlassen kaum thematisiert – oder aber die Medien befeuern noch die Stigmatisierung der Betroffenen. Die mediale und politische Kriminalisierung der Opfer verstärke das Schweigen über diese Verbrechen in der Gesellschaft, erklärtPhilippa Williams von Técnicas Rudas, Koordinatorin des Projektes “Verschwinden in der Pandemie”.

Allianz, um das Schweigen zu brechen

Das gewaltsame Verschwindenlassen erregt in Mexiko kaum noch öffentliches Interesse. „Erst wenn getitelt wird ‚25 Menschen in einer Bar erschossen‘, findet die Berichterstattung noch Aufmerksamkeit. Für alles darunter sind die Menschen in Mexiko nach Jahrzehnten von Gewalt abgestumpft,“ erläutert Williams. Ihr Team aus Medien- und Kunstschaffenden ging der Frage auf den Grund: Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen in Mexiko? Dafür erwecken sie investigativen Journalismus in interaktiven, digitalen Räumen zum Leben – und hoffen, das gewaltsame Verschwindenlassen so ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.

Mit dem Ziel, zu einem demokratischen Dialog und freier Meinungsbildung innerhalb der mexikanischen Gesellschaft beizutragen, stärkt die DW Akademie ihren lokalen Partner Técnicas Rudas, das Schweigen über gewaltsames Verschwindenlassen mit innovativen Mitteln zu brechen.

Screenshot Desaparecer en Pandemia
Screenshot der Webseite des Projektes "Verschwinden in der Pandemie". Bild: desaparecerenpandemia.org

UN-Bericht: Verschwindenlassen mit Sichtbarkeit bekämpfen

In Mexiko verschwinden durchschnittlich jeden Tag 28 Menschen gewaltsam und unfreiwillig. Mehr als 100.000 Menschen gelten als vermisst. Ein kürzlich vom Ausschuss der Vereinten Nationen gegen das Verschwindenlassen (CED) veröffentlichter Bericht belegt mit diesen Zahlen die tiefgreifende Menschenrechtskrise in Mexiko.In dem UN-Bericht wirdvor allem die organisierte Kriminalität als verantwortlich identifiziert. Aber auch der Staat ist demnach an diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt: Öffentliche Bedienstete auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene seien durch Mittäterschaft, Duldung oder Unterlassung in unterschiedlichem Ausmaß involviert.Rund 98 Prozent aller Straftaten in Mexiko bleiben straflos, laut UN-Ausschuss ein strukturelles Problem passiver Justizbehörden und mangelnder Kapazitäten zur Aufklärung

Der UN-Bericht empfiehlt unter anderem, das gewaltsame Verschwindenlassen sichtbarer zu machen, die Gesellschaft über diese Verbrechen aufzuklären und zu informieren – und sie so zu bekämpfen.

Kunst und Journalismus gehen eine Symbiose ein

Das Rechercheteam von Técnicas Rudas hat genau das zum Ziel: mit neuen, kreativen Ansätzen wieder aufrütteln und Aufmerksamkeit schaffen. Es sichtete dafür zunächst die aktuelle Berichterstattung zum organisierten Verbrechen, analysierte soziale Netzwerke und sprach mit rund 30 Nichtregierungsorganisationen, Hinterbliebenen-Gruppen und Fachkreisen, die sich mit nationalen Sicherheitsthemen beschäftigen. Dabei entdeckten sie wiederkehrende Muster und sich verdichtende Hinweise. Letztlich beschlossen sie vier Spuren nachzugehen. Erfahrene Lokaljournalistinnen und -journalisten, die sich in den Milieus gut auskennen, recherchierten dafürunter strengen Sicherheitsvorkehrungen – und wurden künstlerisch begleitet.

„Die Zusammenarbeit mit Kunstschaffenden gibt den Journalistinnen und Journalisten neue Möglichkeiten, die Dringlichkeit ihrer Rechercheergebnisse zu vermitteln”, erklärt Williams. Aus dem Recherchematerial von Patricia Mayorgaentstanden so ein Song, ein Podcast, ein Video und 3D-Illustrationen, die im virtuellen Ambiente von Ciudad Juarez auf der Projektwebseite angeklickt werden können. Nutzende finden sich im Zentrum von Ciudad Juarez wieder, sie hören die Geräusche des Marktes und sehen die plakatierten Vermisstenanzeigen.

Digitale Kunst macht journalistische Recherche erfahrbar und ändert die Rolle des Publikums: Statt die Inhalte nur zu konsumieren, wird es zur Interaktion aufgefordert.Dieser Perspektivwechsel wird durch einen Formatwechsel angeregt: von klassischen journalistischen Formaten hin zu einer Vielfalt an Formaten, die dadurch eine möglichst große Bandbreite an Menschen ansprechen. „Die Geschichten, mit denen wir uns täglich befassen, sind sehr schmerzhaft. Es bedeutet mir viel, dass daraus in gewisser Weise auch Schönes entstehen kann,“ sagt Journalistin Mayorga.

Seit Anfang 2020 arbeitet die DW Akademie mit Técnicas Rudas in Mexiko zusammen. Als unabhängige, lokale Organisation unterstützt sie Opfer des gewaltsamen Verschwindenlassens in Mexiko durch strategische Recherchen und den Aufbau von Allianzen. Ziel der Unterstützung der DW Akademie ist es, Menschenrechtsthemen in der Bevölkerung sichtbarer zu machen. Das Projekt wird mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) finanziert.