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PolitikChile

Warum Chile vorerst an der Pinochet-Verfassung festhält

20. Dezember 2023

2020 votierten die Chilenen dafür, die Verfassung aus der Zeit der Diktatur Augusto Pinochets zu ersetzen. Dass sie nun den zweiten Vorschlag in Folge ablehnten, ist ein Zeichen für die tiefe politische Spaltung im Land.

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Ein Hand wirft einen Stimmzettel in eine Wahlurne mit der Aufschrift "Verfassungsreferendum" auf Spanisch
Zwei Verfassungsvorschläge haben die Chilenen abgelehnt: "Es sieht aus, als hätten die Wähler wie die Erwachsenen im Raum gehandelt", meint Politologin Mariana Llanos.Bild: SEBASTIAN CISTERNAS/Aton Chile/IMAGO

Das "Nein" kam nicht wirklich überraschend. Viele Chilenen hatten in den Wochen und Monaten vor dem Referendum ihre Enttäuschung über das Ergebnis des verfassungsgebenden Prozesses geäußert. Am Sonntag lehnte eine Mehrheit der Wähler zum zweiten Mal innerhalb von 15 Monaten einen Vorschlag für ein neues Grundgesetz ab.

Jähes Ende nach wildem Start

Ende 2019 hatte der damalige konservative Präsident Sebastián Piñera angekündigt, die Bürger Chiles darüber anstimmen zu lassen,ob das Land eine neue Verfassung erhalten sollte. Mit dem Referendum kam er einer der dringendsten Forderungen nach, die in den gewaltsamen Protesten laut wurden, die ab Oktober 2019 monatelang große Teile des Landes erschütterten. Bei gewalttätigen Ausschreitungen, Plünderungen, Brandstiftungen und Einsätzen der Polizei, die hart gegen die Demonstranten vorging, kamen mehr als 30 Menschen ums Leben, Hunderte wurden teils schwer verletzt. Im Oktober des Folgejahres dann stimmten rund 78 Prozent der Chilenen für eine Verfassungsreform.

Wir schreiben Chiles Verfassung

Die neue Verfassung sollte die derzeitige ersetzen, die 1980 während der Diktatur von Augusto Pinochet verfasst wurde. Der General hatte 1973 durch einen Militärputsch die Macht über das südamerikanische Land übernommen und 1990 durch seinen Rücktritt unter politischem Druck den Weg zur Demokratisierung freigemacht.

Die Verfassung wurde seitdem mehrfach geändert, doch viele Chilenen sehen darin immer noch ein Erbe der Diktatur mit ihren massiven Menschenrechtsverletzungen. Während einige darauf hinweisen, dass Chile unter der aktuellen Verfassung zu einem der stabilsten und wohlhabendsten Länder der Region wurde, betonen andere, dass die massive wirtschaftliche Ungleichheit im Land zementiert wurde.

Fehlende politische Mitte in Chile

Doch der Wunsch nach einer neuen Verfassung bleibt vorerst unerfüllt. Am 4. September 2022 lehnten die chilenischen Wähler den ersten Entwurf einer neuen Verfassung mit einer Mehrheit von 62 Prozent ab, am Sonntag stimmten 56 Prozent gegen den zweiten Vorschlag.

Mariana Llanos, Co-Direktorin des GIGA Instituts für Lateinamerika-Studien in Hamburg, sagt: "Es sieht aus, als hätten die Wähler wie die Erwachsenen im Raum gehandelt." Sie hätten wohl gespürt, dass beide Vorschläge die chilenische Gesellschaft hätten spalten und Demokratie hätten schwächen können.

Chile | Pinochet | 1997
17 Jahre lang stand Augusto Pinochet der Militärdiktatur in Chile vorBild: Cris Bouroncle/dpa/picture-alliance

Beide Male waren die Gründe für die Ablehnung ähnlich, sagt Llanos: "Der erste Vorschlag wurde von der gemäßigten Wählerschaft als zu links angesehen, während dieser Vorschlag zu sehr nach rechts ging." Sie und andere Experten sind sich einig, dass es derzeit keine liberale Partei der politischen Mitte gibt, die realistische Ambitionen hätte, das Land zu regieren.

Politische Extreme ohne Konsens

Die Proteste 2019/2020 hatten sich an einer leichten Erhöhung der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr in der chilenischen Hauptstadt Santiago entzündet. Doch die tiefe Unzufriedenheit über das neoliberale Modell, das Pinochet eingeführt hatte, schwelte schon seit Jahrzehnten. Das politische Momentum der Proteste gab den linken Parteien im Lande Auftrieb. Erst beschied ihnen das die Mehrheit in dem Gremium, das den ersten Entwurf zu einer neuen Verfassung erarbeitete, die etwa die Rechte von Indigenen und queeren Personen garantierte und ökologische Aspekte hervorhob. Danach folgte der Sieg von Gabriel Boric bei der Präsidentschaftswahl im Jahr 2022.

Chile: Mehrheit gegen Verfassungsreform

Nach der Ablehnung des ersten Vorschlags für eine neue Verfassung schlug das politische Pendel jedoch um. Im neuen Verfassungsgremium dominierte die politische Rechte. Diese ließ in der ersten Hälfte des Jahres 2023 einen ersten Entwurf von einer Expertengruppe ausarbeiten. Der sei wesentlich "ausgewogener" gewesen, als das, was den Chilenen am Sonntag zur Abstimmung vorgelegt wurde, sagte Claudia Heiss, Politikwissenschaftlerin an der Universität von Chile in Santiago, Anfang November im "Americas Quarterly"-Podcast: "Es war natürlich nicht das, was die Linke mag, es war auch nicht das, was die Rechte bevorzugen würde, und ich denke, so sollte es auch sein. Es war ein Text, der eine minimale Einigung zwischen Gruppen darstellte, die sich nicht einig sind."

"Wunschzettel an das Christkind"

Dann jedoch fanden Regeln zu Steuervergünstigungen und zur Ausweisung von Migranten Eingang in den Text - Dinge, die nicht in eine Verfassung gehören, meint Heiss: "Ich denke, diese Verfassung hat viele populistische Züge."

Günther Maihold, Lateinamerika-Experte und stellvertretender Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), stimmt dem zu, meint allerdings, dass es in Lateinamerika nicht ungewöhnlich sei, dass Politiker eine Verfassung als "Wunschzettel an das Christkind" verstünden, auf den jeder etwas von seiner politischen Agenda schreiben wolle.

Zwei junge Menschen liegen sich in einer ausgelassenen Menge in den Armen
Erleichterung bei Gegnern des Verfassungsentwurfs, der am Sonntag in Chile zur Volksabstimmung vorlagBild: Matias Basualdo/AP Photo/picture alliance

Obwohl viele chilenische Politiker offenbar nach wie vor glauben, dass Polarisierung ein Erfolgsrezept ist, zeigten die Referenden, dass das Wahlvolk dies - zumindest bei einer Verfassung - nicht schätze, meint Heiss. "Viele Sozialwissenschaftler argumentieren, dass die Polarisierung in Wirklichkeit eher bei den Eliten als bei den Bürgern zu finden ist."

Wird Chile endlich die alte Verfassung überwinden?

"Ich denke, es ist ein Moment der Entmutigung. Es ist ein trauriger Moment, weil wir nicht in der Lage waren, uns auf grundlegende Regeln zu einigen, die jedem politischen Sektor das Gefühl ermöglichen, gleiche Chancen zu haben, um reguläre Politik zu machen", sagte sie "Americas Quarterly" bereits einige Wochen vor dem Referendum.

Auch Maihold sieht den Schwung für eine neue Verfassung erlahmen: "Es gibt bestimmte Gründungsmomente, in denen ein Konsens möglich ist und ein Dokument entsteht, das alle politischen Lager zusammenbringen kann." Dies jedoch sei derzeit in der politischen Klasse Chiles nicht der Fall. Vorerst werden die Chilenen mit ihrer alten Verfassung leben müssen. Präsident Boric hatte vor dem Referendum am Sonntag deutlich gemacht, dass er keinen dritten Versuch starten wird.

Jan Walter Autorenfoto
Jan D. Walter Jan ist Redakteur und Reporter der deutschen Redaktion für internationale Politik und Gesellschaft.