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Debatte um Offenen Brief verschärft sich

3. Mai 2022

Ein Brief erhitzt seit Tagen die Gemüter in Deutschland. Es geht um die moralische Frage, ob man die Ukrainer sich selbst überlassen darf, um eine weitere Eskalation zu verhindern.

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Menschen aus der Ukraine demonstrieren in Berlin mit blau-gelben Schildern für Waffenlieferungen in ihr Land.
Menschen aus der Ukraine demonstrieren in Berlin für Waffenlieferungen in ihr LandBild: Kay Nietfeld/dpa/picture alliance

"Wer sind wir, dass wir darüber urteilen, ob es angemessen ist, dass dieser Krieg weiter geht und sich diese Menschen weiter verteidigen oder nicht?" Der Lyriker und Musiker Wolfgang Müller hat sich auf seiner Webseite in einem langen Statement zu dem Offenen Brief von 28 Prominenten aus der deutschen Kulturbranche geäußert und sich damit in die hitzige Debatte eingebracht, die um die geplanten Waffenlieferungen aus Deutschland in die Ukraine entbrannt ist. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Briefes, unter ihnen die Publizistin Alice Schwarzer, Schauspieler Lars Eidinger, Kabarettist Dieter Nuhr und Schriftstellerin Juli Zeh, fürchten einen dritten Weltkrieg, deshalb solle man der Ukraine lieber keine weiteren schweren Waffen liefern. Denn das könne Putin als Vorwand nehmen, um Nato-Staaten in einen Krieg hineinzuziehen.

"Man sollte dies aber nicht als friedliebenden Pazifismus verkaufen, denn de facto wäre das in diesem Fall ein Kotau vor dem Recht des Stärkeren", schreibt Wolfgang Müller, der bis dato in Deutschland ein eher unbekannter Liedermacher war.

Der Lyriker und Musiker Wolfgang Müller, Porträt.
Der Hamburger Liedermacher Wolfgang MüllerBild: Privat

Lieber stillhalten und so einen Weltkrieg verhindern?

Für viele Menschen ist die Haltung des Offenen Briefes ein Schlag ins Gesicht der ukrainischen Bevölkerung. Denn der Wortlaut des Briefes legt nahe, man solle die Ukraine sich fortan selbst überlassen anstatt Wladimir Putin mit weiteren Waffenlieferungen zu provozieren. Mit  diesen würde man einen atomaren Weltkrieg riskieren, der nicht nur für die Menschen in der Ukraine eine Katastrophe wäre. Diese Haltung erscheint vielen Kritikern an der Realität vorbei. 

"Verlust des moralischen Kompasses"

"Wer die Lieferung schwerer Waffen zur reinen Landesverteidigung für Leib und Leben gegen einen übermächtigen Aggressor als Eskalation brandmarkt, hat jeden moralischen Kompass verloren," schreibt Müller, dies sei "Täter-Opfer-Umkehr in Reinkultur". In einem Interview mit dem Radiosender "Deutschlandfunk" bekräftigte er seinen Standpunkt: "Von mir aus kann jeder sagen: Ich habe eine Scheißangst, dass das eskaliert und deswegen möchte ich diese Leute lieber ihrem Schicksal überlassen." Dass es aber eine moralische Pflicht sei, die Ukrainer im Stich zu lassen, weil man ja eine Verantwortung gegenüber dem Frieden der Welt habe, dies könne man so nicht stehenlassen. "Moralische Ratschläge zu erteilen, das ist eine unerträgliche Überheblichkeit und Respektlosigkeit gegenüber diesen Menschen."

Ein ukrainischer Junge trauert am Grab seines Vaters
Ein ukrainischer Junge trauert am Grab seines VatersBild: Zohra Bensemra/REUTERS

"Körperlich schmerzhaft"

Die ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk sagte in einem Interview im Schweizer Online-Magazin "Republik": "Es war körperlich schmerzhaft für mich, diesen Text zu lesen." Er sei "unverschämt, arrogant und einfach dumm". Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner eines solchen Briefes wollten in ihren Augen nur ihre Ruhe vor einem solchen Krieg haben.

"Sowas können nur Leute sagen, die mit dem Hintern im Warmen sitzen", meinte auch die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Sie ist zurzeit Gast in zahlreichen deutschen Talkshows, erklärt und verteidigt dort als Expertin für Verteidigungspolitik den Beschluss der Bundesregierung für weitere Waffenlieferungen.

Erklärungsversuche

Inzwischen werden viele der Unterzeichnerinnen und Unterzeichner des Offenen Briefes um weitere Stellungnahmen gebeten. Und einige möchten sich vor dem Hintergrund heftiger Kritik erklären. Alice Schwarzer bezeichnete den Brief in einem Interview mit der Tageszeitung "Die Welt" als "nachdenkliche, sehr genaue, zum Teil sehr kenntnisreiche und auch engagierte Stellungnahme". Das Interview wurde im Verlauf recht heftig - und fand auch in den Sozialen Medien Beachtung:

Der Kabarettist Dieter Nuhr weist die Kritik an dem Brief als "unangemessen, irrational und teilweise leider auch verlogen" zurück und schreibt weiter auf seiner Facebook-Seite: "Weder wurde im Brief gefordert, dass sich die Ukraine widerstandslos ergeben sollte, wie den Unterzeichnern, also auch mir vorgeworfen wurde, noch stand im Brief irgendetwas davon, dass die Unterzeichner die russische Kriegsschuld anzweifeln oder irgendwelche Sympathien für Putin hätten", so Nuhr. "Der Brief fordert allerdings, alles zu unterlassen, was eine Ausweitung des Konflikts auslösen könnte. Dies habe ich unterschrieben."

Schauspieler Lars Eidinger lächelt in die Kamera, Porträt
Lars Eidinger Bild: RONNY HARTMANN/AFP/Getty Images

Schauspieler Lars Eidinger verteidigte seine Haltung in der "Berliner Zeitung" mit einem Verweis auf seine Tauglichkeitsprüfung zum Kriegsdienstverweigerer: "Die wesentliche Frage, die ich beantworten musste, war: Wenn einer meiner Lieben mit einer Waffe bedroht werden würde und ich die Chance hätte, den Angreifer zu töten - wie würde ich reagieren? Meine Antwort war: 'Ich würde nicht schießen, um die Aggressionsspirale nicht anzukurbeln.' An dieses Ideal glaube ich noch heute, auch wenn es wie eine Utopie klingen mag. Besonders jetzt, wo die russische Regierung mit ihrer Armee in der Ukraine mit äußerster Brutalität vorgeht, angesichts des schockierenden Mordens und der Grausamkeit, die wir heute erleben."

Wolfgang Müller sieht das anders: "Mit jemandem, dessen erklärtes Ziel die Vernichtung der Gegenseite ist, lässt sich schwerlich verhandeln. Und der kann auch nicht mit Zurückhaltung besänftigt werden."

Unterdessen wurde im russischen Staatsfernsehen ein atomarer Angriff auf die drei europäischen Hauptstädte Berlin, London und Paris simuliert. 

 

Wuensch Silke Kommentarbild App
Silke Wünsch Redakteurin, Autorin und Reporterin bei Culture Online