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PolitikAsien

Iran: Ein Jahr nach dem Tod von Jina Mahsa Amini

Shabnam von Hein
15. September 2023

Vor einem Jahr starb die 22-jährige Jina Mahsa Amini im Polizeigewahrsam. Ihr Tod setzte 2022 eine Protestbewegung in Gang, die den Iran verändert hat.

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Großbritannien | Iran Proteste
Proteste am Todestag von Frauenrechtlerin Mahsa Amini in LondonBild: Jonathan Brady/PA Wire/empics/picture alliance

Gut eine Woche vor dem ersten Todestag trat die Familie von Jina Mahsa Amini an die iranische Öffentlichkeit. Am 8. September kündigte sie auf Instagram an, dass sie am 16. September an Mahsas Grab trauern möchte. Ihre Angehörigen würden wie jede trauernde Familie eine religiöse und traditionelle Trauerfeier für ihre geliebte Tochter abhalten, hieß es weiter. Seit einem Jahr steht Mahsas Familie unter der Beobachtung durch die Sicherheitskräfte.

Die Sicherheitskräfte beobachten nicht nur die Familie. Sie überwachen viele Friedhöfe im Land, um Menschenansammlungen zu verhindern, da diese wie ein Jahr zuvor schnell zu Protesten führen könnten. Das will die iranische Führung unterbinden. Die Opferfamilien stehen unter enormem Druck. "Wir haben diese Art weit verbreiteter Verhaftungen und Festnahmen von Familienangehörigen der Opfer noch nie zuvor erlebt", schreibt die Menschenrechtsaktivistin Shiva Nazar Ahari auf Anfrage der DW. Nazar Ahari ist Mitglied des iranischen Komitees für Menschenrechte. Sie wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder verhaftet und saß mehrere Jahre im Gefängnis. Seit Oktober 2018 lebt sie in Slowenien.

"Bislang wurden mehr als 40 Angehörige der Opfer festgenommen. Und die Zahl der Festnahmen steigt täglich", sagt Ahari. "Politische und soziale Aktivisten befinden sich entweder im Gefängnis, werden verhört oder bedroht. Es mag sein, dass diese Methoden vorübergehend weitere Proteste verhindern."

Auslöser der größten Protestbewegung seit Jahrzehnten

Rückblick: Jina Mahsa Amini wurde letztes Jahr während einer Reise in die Hauptstadt Teheran festgenommen und in ein Polizeirevier gebracht, angeblich weil sie ihr Kopftuch nicht angemessen getragen habe. Im Iran besteht für Frauen in der Öffentlichkeit strikte Kopftuchpflicht. Wenige Stunden später wurde sie leblos aus dem Polizeigewahrsam ins Krankenhaus gebracht. Drei Tage später, am 16. September, wurde sie offiziell für tot erklärt.

Belgien Protest nach Tod von Mahsa Amini in Brüssel
Die 22-jährige Jina Mahsa Amini starb im Polizeigewahrsam Bild: Kenzo Tribouillard/AFP

Der Massenprotest begannen mit der Beerdigung von Jina Mahsa Amini in ihrem Heimatort Saghes, einer kurdischen Stadt im Westen des Irans, und breitete sich schnell im ganzen Land aus. Die Teilnehmer, überwiegend junge Frauen, nahmen ihr Kopftuch ab. Ihr Motto: "Frau, Leben, Freiheit". Die flächendeckenden Kundgebungen entwickelten sich zu den größten und am längsten andauernden Protesten seit der Gründung der Islamischen Republik im Jahr 1979. Darauf reagierte die Regierung mit massiver Repression und Gewalt. Exakte Angaben sind schwer zu erhalten, aber unabhängigen Menschenrechtsorganisationen zufolge haben die Sicherheitskräfte im Iran bei Protesten zwischen dem 16. September 2022 und Ende Januar 2023 mindestens 527 Demonstranten getötet, darunter 17 Minderjährige.

Kopftuch als Symbol systematischer Unterdrückung 

Die Menschenrechtsaktivistin Shiva Nazar Ahari ist überzeugt, dass diese Proteste die politischen und sozialen Beziehungen in der iranischen Gesellschaft nachhaltig verändert haben.

Irans Frauen wehren sich gegen Kleiderregeln

Eine der bedeutsamsten Veränderungen betrifft das neue Erscheinungsbild der Frauen in der Öffentlichkeit. Trotz verschärfter Strafmaßnahmen wie Bußgelder weigern sich viele Frauen, das vorgeschriebene Kopftuch zu tragen. Sie sehen das Kopftuch als ein Symbol systematischer Unterdrückung und Demütigung und möchten sich nicht länger den damit verbundenen Regeln beugen.

Seit der Islamischen Revolution spielt das Bild der Frau eine wichtige Rolle in der Staatsideologie. Eine Frau ohne Hijab wird als Symbol eines freizügigen, westlichen Lebensstils gesehen und gilt konservativen Kräften als kultureller Angriff gegen die islamische Kultur. Das vom politischen System propagierte Frauenbild ist eine Frau, die nicht nur den Hijab trägt, sondern sich fügt und unterordnet.

Iranischen Frauen werden seit Jahrzehnten diskriminiert. Dies bestätigt auch ein Bericht der Stiftung Weltwirtschaftsforum (WEF). Im 'Gender-Gap-Report' von 2022 rangiert das Land international auf dem 143. von 146 Plätzen. Das WEF untersucht die Gleichstellung der Geschlechter in den Bereichen Wirtschaft, Bildung, Gesundheit und Politik. Besonders die politische Teilhabe von Frauen spielt eine entscheidende Rolle bei dieser Platzierung.

Machthaber kämpfen gegen eigene Bevölkerung

"Wir haben es mit einer progressiven Bewegung zu tun, die langfristig Früchte tragen wird", glaubt auch der international renommierte Bildhauer Barbad Golshiri, der jetzt in Paris lebt. Als Sohn des zeitgenössischen Schriftstellers Houshang Golshiri ist er in der iranischen Kultur- und Kunstszene gut vernetzt. Im Gespräch mit der DW sagt er: "Die Bewegung 'Frau, Leben, Freiheit' führt gerade zu einer kulturellen Revolution von der untersten Schicht der Gesellschaft aus. Sie stellt Werte infrage, die die Despoten seit den 1980er-Jahren von oben her ihrer Gesellschaft aufzwingen möchten."

"Wir kämpfen für die Freiheit der Wahl"

Damals hatten die Machthaber im Zuge der Islamischen Revolution das Bildungssystem islamisiert, Frauen zum Tragen von Kopftüchern in der Öffentlichkeit gezwungen, unabhängige Kulturschaffende und Wissenschaftler ins Exil geschickt oder festgenommen. Ende der 1980er-Jahre wurden politische Gefangene in Massen hingerichtet.

"Das politische System will jetzt die Gesellschaft mit den Methoden der 1980er-Jahre einschüchtern", sagt Golshiri und verweist auf deren Methoden - wie die jüngste Masseninhaftierung von Protestierenden, Todesurteile gegen politische Gefangene sowie die Entlassung kritischer Wissenschaftler aus Bildungseinrichtungen.

Das iranische Parlament hatte am 22. August ein kontroverses Gesetz gebilligt, das härtere Strafmaßnahmen bei Missachtung der islamischen Kleiderordnung vorsieht. Diese umfassen bei mehrfachen Verstößen sogar bis zu 15 Jahre Haft. Auch die Veröffentlichung von Fotos mit Frauen ohne Kopftuch im Netz wird unter Strafe gestellt. Zusätzlich sind Ausreisesperren vorgesehen. Die Justiz droht, Supermärkte, Restaurants oder Museen zu schließen, die Frauen ohne Kopftuch Einlass gewähren.

Dagegen sollen religiöse Frauen besser geschützt werden. Wer verschleierte Frauen beleidigt, muss für sechs Monate hinter Gitter und erhält 74 Peitschenhiebe. Damit versuchen die Machthaber einen Keil in die Bevölkerung zu treiben.

Forderung nach Säkularisierung

Die alten Dogmen werden von der vor einem Jahr entstandenen Bewegung herausgefordert, die auch auf die Frauenbewegung zurückgeht, sagt Golshiri.

Der Tod Jina Mahsa Amini bewegte auch Iraner im Ausland. So hatten im Oktober 2022 Exiliraner in Deutschland eine Solidaritätskundgebung in Berlin organisiert. Nach Einschätzungen der Polizei haben rund 80.000 Menschen an der Protestaktion teilgenommen. Und als Zeichen der Anerkennung waren auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2023 erstmals iranische oppositionelle Aktivistinnen anstelle von Regierungsvertretern auf den Podien vertreten.

"Die Bildung einer Opposition innerhalb des Irans ist wegen der Unterdrückung durch die Sicherheitskräfte sehr schwierig. Viele haben erwartet oder gehofft, dass große Namen und Persönlichkeiten unter den Exiliranern eine Opposition aufbauen", sagt Arash Azizi.

Der Nahost-Experte an der Universität New York sagt im DW-Interview: "Die Enttäuschung war groß, als einige Persönlichkeiten wieder getrennte Wege gingen, nachdem sie sich kurzzeitig zusammengeschlossen hatten. Unter den Exiliranern scheint eine Einigung sehr schwierig zu sein. Sie sind letztendlich mit sich selbst beschäftigt. Meiner Meinung nach liegt die entscheidende Kraft für die Veränderung im Iran selbst bei den vielen mutigen Menschen, die momentan hinter Gittern sitzen. Nur sie können es schaffen."