Guatemala: Ein Jugendmedium kämpft gegen die "Infodemie" | Lateinamerika | DW | 07.04.2020
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Lateinamerika

Guatemala: Ein Jugendmedium kämpft gegen die "Infodemie"

"Knoblauch und Zwiebeln helfen gegen das Coronavirus" – nur eine der vielen Falschinformationen, die in Guatemala kursieren. Radio Sónica richtet sich mit einer Kampagne gegen Desinformation gezielt an Jugendliche.

Radiomoderatorin Melu in einem der Videos von Radio Sónica.

Radiomoderatorin Melu in einem der Videos von Radio Sónica.

Die Meldung, die auf dem Smartphone der Radio-Sónica-Moderatorin Melani "Melu" Coyoy auftaucht, klingt alarmierend: "Es werden dringend Menschen gesucht, die aus der Quarantäne geflohen sind, weil sie sich nicht behandeln lassen wollen." Melu ist schockiert – und teilt die Nachricht.

So beginnt das erste von mehreren aktuellen Social-Media-Videos von Radio Sónica in Guatemala. Die Meldung ist eine Falschinformation. Die Moderatorin hätte sie besser nicht teilen sollen, ohne sie vorher zu prüfen.

 

Die kurzen Videos gehören zu einer Kampagne gegen Desinformation rund um das Coronavirus. Sie kommen im Look von Computerspielen daher. Durch das unüberlegte Teilen der Falschinformation hat Melu im "Spiel" Punkte verloren. Passiert ihr das häufiger, kommt ihre Spielfigur kein Level weiter und verliert sogar Leben. Die überspitzte Darstellung soll klar machen: Das hier ist nicht lustig! Falschinformationen können in einer Pandemie lebensbedrohlich sein.

Die Lage in Guatemala: unübersichtlich und besorgniserregend

Laut Global Health Security Index zählt Guatemala zu den Ländern der Erde, die am schlechtesten auf eine Pandemie vorbereitet sind. In einem der mangelhaftesten Gesundheitssysteme Lateinamerikas gibt es nicht genügend Krankenhäuser, um infizierte Menschen zu behandeln; Beatmungsgeräte sind fast gar nicht vorhanden.

Extreme Armut verschärft die Situation: Die Hälfte der Bevölkerung ist unterernährt und deshalb sind nicht nur ältere Menschen durch das Virus gefährdet, sondern auch Kinder und Jugendliche. Vorerkrankungen der Atemwege sind weit verbreitet, weil Millionen Menschen noch immer auf offenen Feuerstellen kochen.

Laut guatemaltekischer Regierung ist die Lage aber "unter Kontrolle" – transparente Zahlen zu Corona-Testergebnissen, Infizierten und Toten gibt es allerdings nicht. Der Staat hat eine mobile App "Alerta Guate" gelauncht, um über die offiziellen Corona-Zahlen zu informieren und die Bevölkerung mit Gesundheitshilfe zu erreichen. Experten für digitale Sicherheit warnen jedoch vor den Nutzungsbedingungen: Die App dürfe über zehn Jahre persönliche Daten der Nutzerinnen und Nutzer speichern und greife ständig auf Standort, Mikrofon, Kamera, Social-Media-Konten, Alter und persönliche Interessen zu.

Junge Mediennutzer in der Krise nicht allein lassen

Von 16 bis 4 Uhr morgens gilt außerdem eine Ausgangssperre. Etwa eineinhalb Millionen Jugendliche sind davon betroffen - und online mit massiven Falschmeldungen konfrontiert. In den sozialen Netzwerken kursieren Gerüchte und Spekulationen über die Behandlung des Coronavirus.

Sónica, das als Radio gestartet ist und sich mittlerweile als multimediales Jugend-Medium versteht, hält mit Media and Information Literacy (MIL) dagegen: In seinen kreativen Videos, aber auch Radiosendungen und WhatsApp-Audios erklären die Radiomacher ihrem jungen Publikum, wie es Falschmeldungen erkennen kann und welche Quellen besser zu hinterfragen sind. "Erst nachdenken, dann teilen", lautet die Botschaft.

Sara Martínez, Mitglied der Sónica-Chefredaktion

Sara Martínez, Mitglied der Sónica-Chefredaktion

"Wir haben uns für dieses Video-Format entschieden, weil es TikTok-Videos ähnelt", sagt Sara Martínez von der Sónica-Chefredaktion über die Wahl der Videospiel-Ästhetik für die Informationskampagne: "Die Herausforderung ist, die Produktionen nicht nur unterhaltsam, sondern auch informativ zu gestalten."

Sónica experimentiert neben den Videos mit "gemeinsamem Fact-Checking": in Live-Sendungen, in Stories auf Facebook und Instagram und in Facebook-Gruppen mit dem Publikum. "Angesichts der riesigen Menge an Informationen, die die Jugendlichen über die verschiedenen digitalen Medien und sozialen Netzwerke empfangen, ist es sehr wichtig, kritisches Denken zu entwickeln", sagt Moderatorin Melu. "Wir wollen, dass unsere Zielgruppe anfängt, falsche Informationen selbst zu bekämpfen."

Melu und Mike moderieren bei Radio Sónica Sendungen. Aktuell sind sie zusätzlich die Protagonisten der Videos zu Falschinformationen über das Coronavirus.

Melu und Mike moderieren bei Radio Sónica Sendungen. Aktuell sind sie zusätzlich die Protagonisten der Videos zu Falschinformationen über das Coronavirus.

Ihr Moderatorenkollege José Miguel "Mike" Méndez, ebenfalls Protagonist der Videos, ergänzt: "Wir helfen ihnen auch dabei, sich von ihren Emotionen nicht mitreißen zu lassen." Denn das könne in der aktuellen Ausnahmesituation schnell passieren. Das Team von Radio Sónica gibt deshalb auch Tipps, wie die Jugendlichen in diesen Krisenzeiten mit ihren Ängsten besser umgehen können. 

Offizielle Stellen seien der Verunsicherung aktuell nicht gewachsen, berichtet Edgar Zamora aus Radio Sónicas Chefredaktion und einer der Gründer des Mediums: "Die guatemaltekische Regierung kommuniziert weder effizient noch allgemeinverständlich. In den Massen- und sozialen Medien kursieren Informationen, die speziell dafür entwickelt wurden, die Emotionen der Guatemalteken zu manipulieren: Informationen, die Angst, Wut und Verwirrung verursachen."

Edgar Zamora: Die Regierung kommuniziert weder effizient noch allgemeinverständlich.

Edgar Zamora: "Die Regierung kommuniziert weder effizient noch allgemeinverständlich."

Guatemalas sprachliche Vielfalt ist eine zusätzliche Herausforderung. Sónica verpackt Informationen zu Covid-19 deshalb auch in kurze Podcasts, die im Radio laufen und über den Messengerdienst WhatsApp verbreitet werden können. Sara Martínez: „Unsere Partnersender übersetzen die kurzen Audio-Clips dann in indigene Maya-Sprachen.“

 

Senden trotz Ausgangssperre

Auch für das Team von Radio Sónica ist die aktuelle Situation belastend. "Wir arbeiten von zu Hause aus. Unsere Redaktionsmeetings finden online statt. Außerdem sind wir im ständigen Kontakt per WhatsApp", sagt Edgar Zamora.

Gemeinsames Arbeiten in der Redaktion ist aktuell unmöglich. (Archivbild)(Archivbild)

Gemeinsames Arbeiten in der Redaktion ist aktuell unmöglich. (Archivbild)

Die Radiomoderatorinnen und -moderatoren sind die einzigen, die noch zum Sender gehen – wegen der Ausgangssperre nur bis 15 Uhr und ausschließlich für ihre jeweiligen Sendungen. Interviews führen sie per Telefon. Video-Produktionen werden nur noch in Zweier-Teams gedreht - mit einem Mindestabstand von zwei Metern. Dann wird das Rohmaterial an das Schnitt-Team geschickt, das wiederum von zu Hause arbeitet.

 

Von jungen Radiomachern für junge Hörerinnen und Hörer

Sónica ist ein alternatives, multimediales Medium in Guatemala-Stadt, das die DW Akademie seit seiner Gründung im Jahr 2015 eng begleitet. Es gehört zur Asociación de Servicios Educativos y Culturales (ASEC). Das Medium richtet sich an eine Zielgruppe, die von guatemaltekischen Medien eher vernachlässigt wird: jugendliche und junge Erwachsene unter 30.

Die Moderatorinnen und Moderatoren sprechen mit ihren jungen Hörerinnen und Hörern über Themen wie Freundschaft und die erste Liebe, aber auch über Tabuthemen wie häusliche Gewalt, Homosexualität und HIV. Jugendliche können per Whatsapp direkt mit den Sendungsmachern in Kontakt treten, ihnen Fragen stellen und an Diskussionen teilnehmen.

Seit Anfang des Jahres steht Media and Information Literacy (MIL) im Mittelpunkt aller Aktivitäten. Radio Sónica bringt MIL jetzt auch an Schulen. Als Pionier in diesem Gebiet findet die Arbeit von Sónica mittlerweile auch Beachtung in den Nachbarländern Mexiko, El Salvador und Honduras.

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