Georgien: Wie eine frühere Journalistin mit Trainings zu Faktencheck dem Gesetz gegen "ausländische Einflussnahme" trotzt | Europa/Zentralasien | DW | 02.10.2024
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Europa/Zentralasien

Georgien: Wie eine frühere Journalistin mit Trainings zu Faktencheck dem Gesetz gegen "ausländische Einflussnahme" trotzt

Während Georgien die Pressefreiheit weiter einschränkt, hilft Tamar Kintsurashvili Reporterinnen und Reportern, ihre Fähigkeiten bei der Überprüfung von Fakten zu verbessern.

Im Journalismus – wie auch im Leben – lassen sich Menschen meist nur ungern von einem persönlichen Irrtum überzeugen. Logik, Vernunft und Fakten sollten daher die Argumente untermauern. Und etwas Bescheidenheit kann dabei auch nicht schaden. 

Im Laufe ihrer langjährigen Arbeit in den Medien – als Reporterin und als Dozentin für Kommunikation und Politikwissenschaft – hat Tamar Kintsurashvili diese Maxime selbst praktiziert, und auch anderen beigebracht, wie man mit Ruhe und Sorgfalt Wissen vermittelt und Falschinformationen entkräftet. Sie hat das Wesen von Hassrede erforscht und Möglichkeiten, wie man ihr begegnen kann. Sie hat anderen dabei geholfen, Nachrichten selbstbewusst zu konsumieren und Propaganda zu erkennen.

"Hier geht es vor allem um Learning by Doing“, sagte sie. „Und auch um Lernen durch Lehren".

Heute arbeitet Kintsurashvili, die Geschäftsführerin der Media Development Foundation (MDF) in Tiflis ist, mit der DW Akademie zusammen und ermöglicht Journalistinnen und Journalisten in ganz Georgien auf diese Weise Zugang zu Faktencheck und Wissenstransfer. Die MDF bietet Desinformationsschulungen im Rahmen eines Myth Detector Lab an, das 2017 in Zusammenarbeit mit der DW Akademie gegründet wurde. 

DW Akademie | Projekt zur Medienkompetenz und Faktenüberprüfung in Georgien

Das Myth Detector Lab in Georgien hat bereits Hunderte von jungen Menschen darin geschult, Desinformationen zu entlarven, die sie im Internet finden. Das Labor veröffentlicht anschließend ihre Ergebnisse. Hier trainieren ukrainische Schülerinnen in Tiflis das Überprüfen von Fakten.

Unter ihren Kolleginnen und Kollegen erarbeitete sich Kintsurashvili einen Namen als nationale Expertin für Faktencheck. Sie hält sich an das Mantra: "Entdecke die Wahrheit selbst".

Analytisches Denken und Journalismus

Dies ist auch der Titel des Faktencheck-Projekts, das die MDF seit 2017 gemeinsam mit der DW Akademie durchführt.  Im Jahr 2023 wurde die Plattform durch die Aufnahme von Teilnehmenden aus Armenien und Aserbaidschan auf die gesamte Region ausgeweitet. Rund 300 Studierende – aus Georgien, Armenien, Aserbaidschan und der Ukraine – haben an Schulungen teilgenommen und über 600 Artikel mit Faktencheck-Kenntnissen verfasst.

Kürzlich organisierte Kintsurashvili für die DW Akademie eine Konferenz zum Thema Faktenüberprüfung. Sie stellte fest, dass die Teilnehmenden zwar so unterschiedliche berufliche Hintergründe wie Jura, Medizin oder Internationale Beziehungen hatten, "aber alle haben die Fähigkeit des analytischen Denkens gemeinsam, das im Journalismus erforderlich ist".

DW Akademie | Projekt zur Medienkompetenz und Faktenüberprüfung in Georgien

Rund 300 Schülerinnen und Schüler aus Georgien, Armenien, Aserbaidschan und der Ukraine haben an Schulungen der Media Development Foundation in Georgien teilgenommen und anschließend doppelt so viele Artikel mit den erlernten Fähigkeiten zur Faktenüberprüfung verfasst.

"Tamar steht selbst im Fokus der Regierung und wird angegriffen", sagt Dr. Katrin Wehry, Program Director der DW Akademie für Georgien, denn "sie ist die wichtigste Expertin für Desinformation und Faktencheck im Land".

Nach dem Motto "Gemeinsam sind wir stark" weist Kintsurashvili in ihren Schulungen darauf hin, dass jeder und jede die Verantwortung dafür übernehmen muss, nicht nur die Wahrheit herauszufinden, sondern auch darauf zu achten, dass nicht wissentlich oder unwissentlich Lügen verbreitet werden. Soziale Netzwerke hängen vom Teilen von Inhalten ab, was bedeutet, dass die Macht in den Händen der Nutzenden liegt.

"Ob absichtlich oder nicht, es ist wichtig, unsere Gewohnheiten zu überprüfen", sagte Kintsurashvili.

Überraschende Erkenntnisse

Der Krieg in der Ukraine, die COVID-Pandemie, Wahlen weltweit, Migration, der Krieg zwischen Israel und Hamas, Betrug in Georgien, Verschwörungstheorien und der Einsatz von künstlicher Intelligenz in der Fotografie – dies sind nur einige der dringlichen Ereignisse in der aktuellen Berichterstattung, mit denen sich die Workshop-Teilnehmenden auseinandergesetzt haben, um zu prüfen, was den Tatsachen entspricht und was nicht. Ihre Arbeit wurde vom Poynter Institute in der CoronaVirusFacts Alliance sowie in EUvsDisinfo veröffentlicht.

Irakli Iagoraschwili, ein ehemaliger Mitarbeiter des Myth Detector Lab, hat kremlfreundliche Einflüsse in Georgien untersucht. Er interessiert sich auch für historische Desinformation.

"Ich beginne damit, anhand von Schlüsselwörtern alle verfügbaren Artikel zum Thema aus dem Internet oder aus Archiven zu sammeln", beschreibt er seine Suche nach falschen Informationen.

"Manchmal muss ich auch mit Einzelpersonen Kontakt aufnehmen, da die Online-Quellen zur georgischen Geschichte recht begrenzt sind. Nachdem ich die Informationen gesammelt habe, analysiere ich sie und beginne zu schreiben."

Bei Myth Detector, sagte er, müssen sich die Autorinnen und Autoren auf Quellen berufen, was aber angesichts des verbreiteten Mangels an historischen Quellen eine Herausforderung sein kann.

DW Akademie | Projekt zur Medienkompetenz und Faktenüberprüfung in Georgien

Kintsurashvili weist in ihren Schulungen darauf hin, dass jeder dafür verantwortlich ist, selbst die Wahrheit herauszufinden, vor allem, wenn sich Lügen so leicht online verbreiten. Soziale Netzwerke hängen vom Teilen von Inhalten ab, was bedeutet, dass die Macht in den Händen der Nutzenden liegt.

"Am meisten Spaß macht es, wenn man in Archiven, alten Zeitungen oder Zeitschriften etwas Neues entdeckt - etwas, von dem man glaubte, es sei anders – und es mit allen teilen möchte", sagt Iagorashvili. "Ich habe viele solcher überraschenden Entdeckungen gemacht, und ich bemühe mich immer, qualitativ hochwertige Artikel zu schreiben, um so viele Menschen wie möglich zu erreichen."

Noch immer erhält er von Kintsurashvili relevante Bearbeitungen und Rückfragen.

"Sie hat mir beigebracht, wie man Forschung organisiert, wie man alle Verfahren richtig durchführt und die Ergebnisse dem Publikum wirkungsvoll präsentiert", sagte er.

‘Doppelgänger’

Kintsurashvili erklärte, dass nicht-westliche Leserinnen oder Hörer oft davon ausgingen, westliche Medien seien glaubwürdiger. So seien die Logos von DW, Radio Liberty und Voice of America bereits missbraucht worden, um Desinformationen über den Krieg in der Ukraine zu verbreiten, fügt sie hinzu. Sie und ihre Kolleginnen und Kollegen lehren die Schülerinnen und Schüler daher, die Transparenz der Quellen, einschließlich der IP-Adressen, zurückzuverfolgen.

"Es geht um Transparenz und die Anwendung von Methoden, um verschiedene Akteure zu berücksichtigen, die darauf abzielen, zu manipulieren", sagte sie. "In diesem Sinne ist ein länderübergreifender Austausch sehr nützlich, um den Modus Operandi der verschiedenen sogenannten Doppelgänger zu verstehen."

Das georgische Gesetz zur Transparenz "ausländischer Einflussnahme" – oder "Agentengesetz" – zwingt im Wesentlichen Nichtregierungsorganisationen und Medien, die als "Träger der Interessen einer ausländischen Macht" gelten, der georgischen Regierung regelmäßig Finanzberichte über ihre Aktivitäten vorzulegen. Es betrifft jedoch auch einheimische georgische Journalistinnen und Journalisten, die meist von westlichen Geldgebern abhängig sind. In der Zwischenzeit, so Kintsurashvili, wurden die Büros der Media Development Foundation zweimal verwüstet und die Mitarbeitenden fanden an ihren Büros Plakate mit dem Wort "Verräter" neben ihren Fotos.

"Sie können uns sanktionieren", sagte sie. "Aber die Registrierung als ausländischer Agent bei den Behörden untergräbt unsere Arbeit."

Die MDF werde alle rechtlichen Mittel nutzen, um ihre Rechte und ihre laufende Arbeit zu verteidigen, sagte sie weiter.

"Deshalb haben wir uns anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen angeschlossen, um das Gesetz über ‚ausländische Agenten‘ vor dem georgischen Verfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzufechten", sagte Kintsurashvili.

"Wir glauben an eine offene, integrative und pluralistische Gesellschaft. Mit unserer Arbeit versetzen wir die Menschen in die Lage, ihr Wissen zu erweitern und befähigen sie zur Selbstregulierung."

"Unsere Arbeit ist wichtig für die heutige Zeit", fuhr sie fort. "Hier und im Ausland".

Die Media Development Foundation (MDF) ist ein Partner der DW Akademie in Georgien und wird von der Europäischen Union und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) unterstützt.

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